IM INTERVIEW: ARNE SEBASTIAN FRITZ UND MARKUS SASS

Stadien in ein schlaues Zuhause für den Sport verwandeln

Noch großer Nachholbedarf in Sachen Digitalisierung - Viele Clubs sind sich der Erlöspotenziale und Einnahmequellen noch gar nicht bewusst

Stadien in ein schlaues Zuhause für den Sport verwandeln

Der digitale Wandel steht seit geraumer Zeit im Fokus vieler Wirtschaftsbereiche und Unternehmensstrategien. So auch im Sportbusiness: Ob rege Diskussionen der Fans in sozialen Medien, Vereins-Apps, Videobeweise oder Torlinientechnologie – die Digitalisierung hat die Sportbranche längst erreicht. Wie der Sport davon profitiert und warum wir smarte Stadien brauchen, erklären Arne Sebastian Fritz und Markus Sass. Herr Fritz, durch die Coronapandemie hat der Digitalisierungstrend neuen Schwung bekommen. Wie wirkt sich das aktuell auf die Sportbranche aus?Fritz: Die Situation rund um die Coronapandemie hat ohne Zweifel jede Branche und jedes Unternehmen stark gefordert, auch in Sachen Digitalisierung. Professionelle Sportclubs und Verbände waren gezwungen, innerhalb kürzester Zeit neue digitale Lösungen und Angebote auf die Beine zu stellen, um die Fanbindung aufrechtzuerhalten und die ausgefallenen Wettbewerbe und Spiele zu kompensieren.Von digitalen Sprechstunden für Fans über Online-Trainingseinheiten und Social-Media-Angebote mit Sportlern bis hin zum virtuellen Imbisswagen haben sich die Vereine einiges einfallen lassen. Dennoch hat die Sportbranche insgesamt und das Stadion als Gebäude in Sachen Digitalisierung noch großen Nachholbedarf. Das bestätigt auch eine vor kurzem von der Hochschule für Technik und Wirtschaft (HTW) und der Personalberatung Odgers Berndtson durchgeführte Studie. Die Studie ergab, dass die Proficlubs bei der Digitalisierung insgesamt zwar vorankommen, komplett digitale Geschäftsmodelle und Ökosysteme bisher jedoch kaum nutzen, um neue Erlöspotenziale zu erschließen. Das deckt sich auch mit unserer Erfahrung aus aktuellen Projekten. Viele Clubs sind sich der Erlöspotenziale und Einnahmequellen, die durch die Digitalisierung möglich sind, noch gar nicht bewusst. Wie digitalisiert sind denn die deutschen Stadien überhaupt?Fritz: Ein Großteil der deutschen Stadien und Arenen, zusammengefasst Venues, steht erst am Anfang der Digitalisierung. Zwar setzten Vereine und Betreiber immer öfter auf digitale Zugangstechnologien und Bezahl- oder Ticketingsysteme, es handelt sich dabei jedoch meist um lose Einzelmaßnahmen, ohne eine fundierte und ganzheitliche Digitalisierungsstrategie. Das führt dazu, dass immer mehr Geld in einzelne digitale Lösungen investiert wird, diese jedoch unvernetzt bleiben und damit ihr Potenzial auch nicht optimal ausgeschöpft wird. Um die Digitalisierung von Venues voranzutreiben, haben wir unsere Kompetenzen mit Nielsen Sports, einem führenden Forschungs- und Beratungsunternehmen in der Sport- und Entertainmentbranche, gebündelt. Gemeinsam bieten wir Betreibern, Investoren und Clubs einen neuen ganzheitlichen Lösungsansatz an: Customized Smart Venue – also ein smartes Stadion, das alle digitalen Lösungen miteinander vernetzt, sich den Bedürfnissen seiner Nutzer anpasst und alle wirtschaftlichen Kriterien erfüllt. Mit dem entsprechenden Digitalisierungskonzept entsteht so ein attraktives und zukunftsfähiges Venue, das allen Stakeholdern über das Spielerlebnis hinaus große Mehrwerte bietet. Was steckt hinter dem Konzept genau?Fritz: Das smarte Stadion zeichnet sich durch eine zentrale Vernetzungsstruktur aus, die auf künstlicher Intelligenz, kurz KI, basiert und Nutzerbedürfnisse in den Vordergrund stellt. Für den Fan wahrnehmbare Effekte sind zum Beispiel ein digitaler Check-in zum Spiel, eine virtuelle Navigation zum Sitzplatz oder ein spontanes Ticket-Upgrade mit Tischreservierung in der Stadionlounge während des Spiels. Eine Stadion-App bündelt alle Anforderungen und passt sie individuell an. Zudem weiß ein KI-gestütztes Ticketingsystem zum Beispiel schon lange vor dem Eventbeginn, dass einige Reservierungen beispielsweise von Urlaubern nicht eingelöst werden. Dann gibt es die freien Kapazitäten über eine App für den Last-Minute-Verkauf frei. Die sogenannte No-Show-Rate kann hierdurch gesenkt werden.Auch bei der Gebäudenutzung vernetzt und optimiert ein Customized Smart Venue die Technik und Prozesse. Als ein mitdenkendes Gebäude steuert es zum Beispiel den Energieverbrauch. Es erfasst das Verhalten der Gebäudenutzer über Tracking-Sensoren und passt sich bestmöglich an die in einem Venue stark variierenden Betriebszustände an. Auf diese Weise werden die in Stadien schlummernden wirtschaftlichen Einsparpotenziale optimal ausgeschöpft. Welche Anforderungen müssen Betreiber und Clubs erfüllen, um zu diesen Vorteilen zu kommen? Und wie schaffen sie das insbesondere in Anbetracht der aktuellen Corona-Situation?Fritz: Die Digitalisierung wird in der Sportbranche noch zu sehr als zusätzlicher Kostenaufwand statt als Chance begriffen. Als Erstes gilt es also, diese Ansicht zu ändern. Natürlich ist die digitale Transformation mit Kosten verbunden, doch sie zahlen sich mehrfach aus. Betreiber erhalten ein modernes, vielseitiges und zukunftssicheres Stadion. Dafür sollten sie aber auch digitale Einzellösungen vermeiden. Ohne eine übergeordnete Vernetzung und Strategie bringen die aufwendigsten Apps oder Tools wenig. Gerade jetzt ist die Zeit, ein Stadion in ein schlaues Zuhause für den Sport zu verwandeln. Durch die Corona-Pandemie waren viele gezwungen, ohne lange Überlegungen ins kalte Wasser der Digitalisierung zu springen, um schnell zumindest irgendwelche Lösungen bereitzustellen und Kontakt zu den Fans zu halten. Daher sollten Clubs und Betreiber die Zeit jetzt und nach der Coronakrise nutzen, um umfassende Digitalisierungsstrategien und -konzepte für ihre Stadien und Arenen zu entwickeln. Herr Sass, wie könnte die Digitalisierung dabei helfen, dass trotz Corona Veranstaltungen in Stadien und Arenen durchgeführt werden können?Sass: Zum jetzigen Zeitpunkt ist leider noch völlig offen, wann die Fans wieder in die Stadien und Arenen zurückkehren können und Veranstaltungen mit Publikum wieder möglich sein werden. Ausverkaufte Stadien sind in absehbarer Zeit jedoch unwahrscheinlich. Wir halten aber einen Betrieb mit verminderter Zuschauerzahl für umsetzbar. In einem ersten Schritt schlagen wir vor, eine sogenannte “Corona Safe Capacity” individuell für jedes Venue zu ermitteln. Berücksichtigt werden dabei beispielsweise die Einlasssituation, innenliegende Verkehrswege, Sanitärkapazitäten und die Verkaufsstände. Mit einer computergestützten Personenstromanalyse kann jeder einzelne Besucher und sein Verhalten vorab simuliert werden – unter Beachtung der gebotenen Abstandsregeln. Dabei geht es nicht um eine einfache Kapazitätsreduktion um den Faktor X. Vielmehr werden unterschiedliche Anreisezeiträume definiert, kreuzungsfreie Laufwege festgelegt und eine dynamische Befüllung der Ränge vorgenommen, damit es weder am Kiosk noch an der Garderobe zu unerwünschten Menschenansammlungen kommt. Richtig Sinn ergibt das Ganze natürlich vor allem in Kombination mit einer App, die das alles zentral steuert und die Kommunikation mit den Besuchern koordiniert. Sind das Digitalisierungsinitiativen, die sich auch nach Corona auszahlen?Sass: Wenn die Stadien und Arenen nach Corona wieder mit voller Kapazität betrieben werden, werden wir dieselben Probleme sehen wie zuvor: lange Wartezeiten an Einlassstellen, Schlangen am Kiosk, überfüllte U-Bahnen und Staus bei der An- und Abreise. Eine intelligent steuernde App entfaltet dann erst ihr ganzes Potenzial. Ich kann mir gut vorstellen, dass wir künftig im Vorfeld eines Events nicht mehr eine Eintrittskarte für einen bestimmten Platz erwerben, sondern nur noch eine Reservierung, auf die erst beim zeitgesteuerten Check-in am Stadion die konkrete Platzzuteilung folgt. Eine optimale Befüllung des Stadions kann dann dynamisch in Echtzeit durch eine App erfolgen. Und ein vollständiges Personenstrommodell sollte zukünftig genauso selbstverständlich zum Datenbestand einer jeden Versammlungsstätte gehören wie der gute alte Gebäudegrundrissplan. Das Interview führte Claudia Weippert-Stemmer.