Stimmungsbilder aus sozialen Medien in Anlageentscheidung einbeziehen

Schwarmintelligenz nutzen - IT zum Filtern und Auswerten einsetzen

Stimmungsbilder aus sozialen Medien in Anlageentscheidung einbeziehen

Der Vormarsch sozialer Medien und Netzwerke ist auch an den Finanzmärkten nicht mehr wegzudenken. Bereits seit geraumer Zeit werden soziale Medien wie Foren, Blogs oder Twitter intensiv für Anlageentscheidungen, insbesondere auch von Privatinvestoren genutzt. Ein Vorteil der sozialen Medien liegt in der enormen Geschwindigkeit, mit der sich neue Informationen verbreiten. Immer häufiger geschieht es, dass soziale Medien als Informationsquelle für die herkömmliche Berichterstattung im Fernsehen oder in der Zeitung verwendet werden. Bekannte Beispiele hierfür sind die Reaktorkatastrophe in Fukushima, der Arabische Frühling oder, auf Unternehmensebene, Informationen zu neuen Produkten. Eher Gerücht denn NachrichtDie sozialen Medien dienen aber nicht nur als schneller Nachrichtenkanal. Zusätzlich entstehen durch Bewertungen und Einschätzungen der Nutzer sowie deren Interaktionen untereinander über die reine Information hinaus auch Stimmungsbilder. Auch wenn Kanäle wie Twitter zunehmend von professionellen Journalisten genutzt werden, ist immer zu beachten, dass Informationen in den sozialen Medien nicht geprüft sind. Daher sollten einzelne Beiträge in der Regel eher als ein Gerücht und nicht als bestätigte Nachricht interpretiert werden. Zahlreiche wissenschaftliche Studien zeigen jedoch, dass sich durch eine Aggregation der einzelnen Beiträge zu einem Stimmungsbild (Sentiment) durchaus kursrelevante Informationen ableiten lassen. Der Grundgedanke dabei ist die “Schwarmintelligenz”. Diese postuliert, dass ein Kollektiv eine größere Wissensbasis und somit niedrigere Irrtumswahrscheinlichkeit aufweist als ein Individuum. Eine Ergänzung bestehender Bewertungsmodelle für die Anlageentscheidung um “Social Media Sentiments” scheint demnach vielversprechend. Überfülle an InformationenAllerdings steckt die Nutzung dieser neuartigen Informationsquellen für Finanzmarktakteure momentan noch in den Kinderschuhen. Einen bedeutenden Grund hierfür hat der Zukunftsforscher John Naisbitt sehr treffend formuliert: “Wir ertrinken in einer Flut von Informationen, doch uns dürstet nach Wissen.” Allein auf Twitter veröffentlichen weltweit mittlerweile über 200 Millionen aktive Nutzer tagtäglich mehr als 500 Millionen Kurznachrichten. Die sozialen Medien haben längst ein Ausmaß erreicht, bei dem eine umfassende Filterung und Auswertung manuell nicht zu bewältigen ist, so dass es IT-gestützter Lösungen bedarf. Forschungsprojekt erfolgreichDie große Herausforderung stellt dabei die Automatisierung der semantischen Analyse der Beiträge dar. Am Finanzplatz Stuttgart befassen sich die Börse Stuttgart und Stuttgart Financial bereits seit fünf Jahren mit diesen Herausforderungen und haben sich im Jahr 2009 mit acht weiteren Unternehmen und Forschungseinrichtungen aus Deutschland, Italien, Slowenien und Spanien zum EU-geförderten Forschungskonsortium “FIRST” zusammengeschlossen. Nach nunmehr drei Jahren wurde das Forschungsprojekt im Herbst dieses Jahres erfolgreich abgeschlossen. Die Erkenntnisse sind vielfältig und vielversprechend. So konnte ein Softwareprototyp für die automatisierte Generierung eines Social-Media-Sentiments entwickelt werden.Die zunehmende Bedeutung sozialer Medien für Anlageentscheidungen birgt jedoch auch erhebliche Risiken. Falsche Gerüchte können schnell eine Eigendynamik entwickeln und an den Finanzmärkten zu erheblichen Verwerfungen führen. Ein prominentes Beispiel hierzu ereignete sich zu Beginn dieses Jahres. Rasant verbreitete sich über Twitter das Gerücht, dass Bundesbank-Präsident Jens Weidmann zurückgetreten sei. Der Markt reagierte prompt, Dax und Euro gingen kurzzeitig in die Knie. Ob solche Gerüchte bewusst gestreut werden oder nicht, ist in diesem Fall kaum nachzuweisen, zumal der Herd der Gerüchteküche in diesem Fall im Ausland brodelte.Da Beiträge in sozialen Medien von jedem ohne Zugangsbeschränkungen verfasst werden können und die Autoren vermeintlich anonym bleiben können, steigt der Anreiz, soziale Medien mutwillig manipulativ zu missbrauchen. Insbesondere illiquide Werte können von den sogenannten Pump-and-dump-Strategien betroffen sein. Dabei wird zunächst in einen Wert investiert, danach der Kurs über die Streuung von Fehlinformationen in die Höhe getrieben, um dann mit Profit zu Höchstständen zu verkaufen.Aus diesem Grund erstreckten sich die dem Forschungsprojekt FIRST zugrunde gelegten Anwendungsszenarien von Beginn an über die reine Unterstützung von Anlageentscheidungen hinaus auch auf Bereiche der Marktüberwachung. Bereits heute steht die Aufsicht vor der Herausforderung, Marktmanipulationen über soziale Medien aufzudecken. Auch hier muss die Entwicklung automatisierter Lösungen weiter vorangetrieben werden, um der Aufsicht eine ressourceneffiziente und gleichzeitig effektive Überwachung der sozialen Medien zu ermöglichen. Aufsicht unterstützenBasierend auf Experteninterviews mit Finanzmarktakteuren wurde im Forschungsprojekt FIRST eine IT-Lösung entwickelt, die in der Lage ist, ein übertrieben überschwängliches Vokabular von einem rein fachlich wertenden zu unterscheiden. Zusammen mit anderen Heuristiken, die sich beispielsweise auf die verschiedenen Quellen und die Häufigkeit von Nennungen innerhalb eines bestimmten Zeitfensters beziehen, können so Indizien für Marktmanipulation geliefert werden. Eine umfassende Untersuchung der Sachverhalte durch die Aufsicht kann so natürlich nicht ersetzt werden. Doch zeigt die Technologie zukunftsweisende Ansätze, die Datenflut auch für die Aufsicht zu filtern.Das Forschungsprojekt hat jedoch auch gezeigt, dass die entwickelte Technologie fortlaufend weiterentwickelt werden muss. Nur so lässt sich eine entsprechende Qualität der automatisierten semantischen Analyse dauerhaft sicherstellen. Dies ist mit einem erheblichen Aufwand verbunden. Unabhängig von den Kosten automatisierter Lösungen bleibt aber die Feststellung, dass sich sowohl Investoren als auch die Aufsicht bewusst mit den Chancen und den Gefahren sozialer Medien auseinandersetzen müssen.—Thomas Munz, Vorstand der Vereinigung Baden-Württembergische Wertpapierbörse