Substanz oder Hype? - Die neuen digitalen Versicherer

Evolutorischer Zwischenschritt denkbar - Direktversicherer sind im Verhältnis zu den PDI unterbewertet - Geschäftsmodelle unterscheiden sich kaum voneinander

Substanz oder Hype? - Die neuen digitalen Versicherer

Wenn man der aktuellen Presse und Studien Glauben schenkt, steht die Versicherungswirtschaft seit Gründung der ersten Versicherer in Deutschland vor über 300 Jahren vor einem bedeutenden Umbruch, der immer mehr Fahrt aufnimmt. Das Geschäftsmodell der Versicherer wird seit den 1990er Jahren nicht zuletzt durch die steigenden Möglichkeiten des Internet herausgefordert. Als Stichworte seien angeführt: zunehmende Markttransparenz und das Aufkommen neuer Geschäftsmodelle wie Aggregatoren, Direkt- beziehungsweise Internet- oder zuletzt digitale Versicherer (siehe Schaubild).Die Innovation der ersten Welle im digitalen Zeitalter besteht im Wesentlichen darin, die klassischen Vertriebsstrukturen aufzubrechen und eine direkte Schnittstelle zum Kunden zu etablieren.In den vergangenen Jahren hat darüber hinaus auch die Gründerszene im Zuge der Digitalisierung die lange Zeit eher wenig geliebte Versicherungsbranche als interessantes Betätigungsfeld erkannt. Es entstehen in immer kürzeren Abständen neue Modelle, die als digitale Versicherer beziehungsweise “Pure Digital Insurer” (PDI) bezeichnet werden. Sie sind vom eigenen Anspruch her digital agierende Anbieter von Versicherungsschutz, die vom Kunden im Allgemeinen als Risikoträger mit eigener Marke wahrgenommen werden.Während in Welle 2 noch vermehrt Frontingmodelle (MGA oder in Deutschland Assekuradeure) auf den Markt kamen, kennzeichnet Welle 3 vor allem eine Reihe von Versicherern mit BaFin- oder europaweiten Neuzulassungen oder Digitalmarken großer Konzerne mit Vermittlerzulassung. Diesen folgen aktuell innovative Versicherer, die ihre Leistung als Service anbieten (Insurance as a Service, Welle 4) oder digitale Unternehmen, die eine globale Expansion anstreben (Welle 5). Aber auch sie sind noch deutlich entfernt vom Zukunftsszenario eines voll digitalen Versicherers, der als dezentrale autonome Organisation (DAO) ohne Mitarbeiter auskommt (Welle 6). Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob das Potenzial in den aktuell bekannten und derzeit realistisch absehbaren Geschäftsmodellen tatsächlich so groß ist, wie so mancher es glauben machen will.Im Unterschied zu den bereits etablierten Direktversicherern der ersten Welle handelt es sich bei den PDI der darauf folgenden Wellen um junge Start-up-Unternehmen und Neugründungen. Deren Finanzierung ist neben wirtschaftlichen Einflussgrößen maßgeblich an andere Erfolgserwartungen gekoppelt, was möglicherweise unerwünschte gesamtwirtschaftliche Folgen mit sich bringt. Nachweis steht noch aus Allein eine Positionierung als digitales Versicherungsunternehmen scheint aktuell eine höhere Attraktivität für Investoren zu bewirken. Folglich haben sie gegenwärtig gute Kapitalgewinnungsmöglichkeiten, obwohl der Nachweis nachhaltiger Ertragskraft sowie der Realisierbarkeit hoher Wachstumserwartungen noch ausstehen. Die dadurch gewonnene Eigenkapitalausstattung ermöglicht wiederum die schnelle Eroberung von Marktanteilen ohne die zwingende Notwendigkeit, Ertragskraft nachzuweisen, was zu einem ruinösen Marktumfeld führt. Und langfristig können aber nur ertragreiche Unternehmen am Markt bestehen.Fraglich ist auch, inwiefern sich Geschäftsmodelle, die explizit als digital bezeichnet werden, von solchen unterscheiden, bei denen das nicht der Fall ist. Auch bleibt abzuwarten, inwieweit PDI die hohen Erwartungen von Investoren, Kunden und Öffentlichkeit tatsächlich nachhaltig erfüllen können. Denn teilweise hat es den Anschein, als seien es “Marketing”- und psychologische Phänomene, wie etwa Gruppenverhalten, die die Aufmerksamkeit lenken und damit Allokationsmechanismen beeinflussen. Ausgleich im KollektivEin bereits verfügbarer und wichtiger Indikator für die tatsächliche Substanz der neuen Geschäftsmodelle ist ihr innovatives Potenzial im Verhältnis zu etablierten Unternehmen. Sollten sich anhand einer Gegenüberstellung nicht entsprechende Vorteile abzeichnen, dann ist auch langfristig nicht damit zu rechnen, dass sich die hochgesteckten Ziele von Investoren tatsächlich realisieren. Betrachtet man rein die Geschäftsmodelle, zeigt sich, dass PDI genau wie traditionelle Versicherungen einen Ausgleich im Kollektiv anstreben. Ihre Innovation bezieht sich folglich im Wesentlichen auf eine Verschlankung von Prozessen, einhergehend mit einer zu Beginn notwendigen Fokussierung auf Spezialgebiete.Gleiches trifft, wenn auch von einem anderen Ansatzpunkt ausgehend, auch auf die Direktversicherer zu, die aufgrund ihres Reifegrades oftmals schon einen höheren Digitalisierungsgrad haben. Ergo: Digitale Versicherer und Direktversicherer unterscheiden sich kaum. Eine klare Trennlinie wäre aber erforderlich, um von einer disruptiven Innovation durch digitale Versicherer sprechen zu können. Zudem gestaltet sich die Beantwortung der Frage nach dem Neuigkeitsgehalt in den Geschäftsmodellen der PDI schwer. Ersetzen digitale Versicherer tatsächlich bestehende Produkte oder Dienstleistungen? Wohl eher nicht. Somit wirken sie weit weniger disruptiv auf dem Versicherungsmarkt als oftmals angenommen – und vielleicht auch von vielen Investoren unterstellt. Ihr langfristiges Wachstums- und Ertragspotenzial ist insofern aus dieser Perspektive kritisch zu hinterfragen.Ein weiterer Indikator ist der Unternehmenswert. Hierfür lässt sich aus wissenschaftlicher Sicht die Discounted-Cash-flow(DCF)-Methode oder gegebenenfalls noch das Ertragswertverfahren anwenden, wobei diese für Start-ups mit ihren meist weniger ausgebauten Planungen, fehlendem Datenmaterial und einer jungen Historie besonderes herausfordernd sind. Informationsasymmetrien zwischen den besser informierten Gründern und ihren Kapitalgebern sind stark ausgeprägt und führen zu größerer Unsicherheit – subjektive Einschätzungen müssen stärker berücksichtigt werden. Entsprechend hoch ist die Gefahr irrationalen (Herden-)Verhaltens, wie man anhand des Entstehens und Platzens verschiedener Blasen wie der New-Economy-Blase in den vergangenen Jahren immer wieder beobachten konnte.Anhand der verfügbaren Zahlen zeigt sich, dass PDI im Verhältnis zu ihren Kennzahlen – und entfernt von den genannten wissenschaftlichen Methoden – teilweise hohe, wenn nicht sogar weit überhöhte Unternehmenswerte aufweisen. Die im Jahr 2007 als Direktversicherer gegründete Deutsche Familienversicherung bezeichnete sich im Rahmen ihres geschickt durchgeführten Börsenganges als Insurtech und wurde bei zuerst mindestens angepeilten 200 Mill. Euro vom Markt bei negativem EBIT (Gewinn vor Zinsen und Steuern) im Jahr des Börsenganges mit rund 160 Mill. Euro bewertet. Als KPI (Key Performance Indicator) wurde ein Jahresumsatz in Höhe von 72 Mill. Euro bei 420 000 Kundenverträgen genannt.Das 2017 gegründete Start-up FRI:DAY wurde mit 214 Mill. Euro noch höher bewertet: Es hat aktuell 45 000 Kunden und zeichnete ca. 30 000 neue Policen im vergangenen Jahr. Bei einem Kapitalisierungszins von derzeit üblich 8% (ohne besonderem Risikozuschlag aufgrund einer erhöhten Ausfallwahrscheinlichkeit für Start-ups) ist bei Anwendung des Ertragswertverfahrens ein nachhaltiges Ergebnis nach Steuern von ca. 17 Mill. Euro p.a. notwendig. Noch deutlicher sieht das Ungleichgewicht beim US-PDI Lemonade aus. Einem geschätzten Unternehmenswert von 2 Mrd. Dollar stehen “nur” 57 Mill. Dollar Umsatz bei 425 000 versicherten Risiken und ein negatives Ergebnis gegenüber.Auch wenn diese Vergleiche mit einer gewissen Vorsicht zu genießen sind, untermauern sie doch die Tendenz, dass PDI im Verhältnis zu ihren vorzeigbaren KPI auf dem Markt scheinbar unverhältnismäßig hoch bewertet sind. Wahrscheinlich sind sie im Verhältnis zu Direktversicherern überbewertet. Oder anders ausgedrückt: Die Direktversicherer sind im Verhältnis zu den PDI unterbewertet. Und dies, obwohl ihre Geschäftsmodelle sich kaum voneinander unterscheiden.Sollten folglich die aktuell als digitale Versicherer bezeichneten Geschäftsmodelle weit weniger disruptiv sein als gemeinhin gegenwärtig angenommen und sollten sich ihre Geschäftsmodelle als “alter Wein in neuen Schläuchen” erweisen, dann stellt sich nach der Ergründung der Ursachen die Frage nach der weiteren zukünftigen Entwicklung. Sind unsere Beobachtungen und Schlussfolgerungen korrekt, dann müsste es in naher Zukunft zu einer Bereinigung in der Bewertung kommen und digitale Versicherer wären somit nur ein evolutorischer Zwischenschritt.Disruptiv könnte aktuell allenfalls das Expansionsverhalten großer internationaler Markteilnehmer wie Ping An oder Amazon wirken. Von ihnen geht eine echte Bedrohung für die etablierten Marktteilnehmer vom Risikoträger bis zur digitalen Kundenschnittstelle aus. Sie punkten mit exzellenter Datenkompetenz und Kapital. Während Amazon darüber hinaus bereits die letzte Meile zum Kunden und eine beneidenswerte Kundenreichweite besitzt, hat Ping An schon einmal bewiesen, wie man sich als Technologieunternehmen mit Versicherungs-Know-how und Ökosystemkompetenz zum Weltmarktführer skalieren kann. Frank Walthes, Vorstandsvorsitzender der Versicherungskammer Bayern und Martin Fleischer, Vorstandsmitglied der BavariaDirekt und Leiter New Business Models im Konzern Versicherungskammer