IM BLICKFELD

System der Mikrokredite gewinnt an Reife

Von Jan Schrader, Frankfurt Börsen-Zeitung, 22.11.2016 Ein Kredit ohne eine Bank ist teuer, sehr teuer. Gemüse- und Obsthändlerinnen in Chennai, eine Millionenmetropole im südöstlichen Indien, zahlen für ein Darlehen von 1 000 Rupien (rund 14 Euro)...

System der Mikrokredite gewinnt an Reife

Von Jan Schrader, FrankfurtEin Kredit ohne eine Bank ist teuer, sehr teuer. Gemüse- und Obsthändlerinnen in Chennai, eine Millionenmetropole im südöstlichen Indien, zahlen für ein Darlehen von 1 000 Rupien (rund 14 Euro) im Durchschnitt 4,7 % Zinsen – am Tag. Anders als über informelle Geldleiher können die Frauen, die meist kaum mehr als einen kleinen Karren oder ein Stück Plane besitzen, die tägliche Ware nicht finanzieren.Das Beispiel, über das die Ökonomin Esther Duflo und ihr Kollege Abhijit Banerjee in ihrem Klassiker “Poor Economics” berichten, ist extrem, und Schätzungen zu Zinssätzen variieren. Doch noch immer haben rund 2 Milliarden Menschen keinen Zugang zum formellen Finanzsystem, wie die International Finance Corporation (IFC), die zur Weltbank gehört, schätzt. Für extrem hohe Zinsen, so absurd sie auch auf westliche Beobachter wirken mögen, gibt es handfeste Gründe: Wer den Ärmsten Geld leiht, geht ein sehr hohes Risiko ein, hat häufig keine verlässlichen Informationen über die Zahlungsbereitschaft, kann sich mitunter nicht auf ein funktionierendes Rechtssystem verlassen und betreibt einen hohen Aufwand für vergleichsweise kleine Summen.Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass Mikrofinanzinstitute, die armen Menschen Kredite zu weniger hohen Zinsen gewähren, seit Jahren eine wachsende Beachtung finden. Führende Mikrofinanzinstitute blicken auf ein Wachstum von rund 20 % pro Jahr zurück, das Volumen der Mikrofinanzindustrie betrug zuletzt weltweit rund 60 bis 100 Mrd. Dollar, wie die Weltbank-Gesellschaft IFC weiter berichtet. Das verwaltete Vermögen privater Investoren, die insbesondere in Schuldinstrumente, zum Teil aber auch Aktien von Mikrofinanzanbietern investieren, kletterte von 2 Mrd. Dollar in 2006 auf annähernd 12 Mrd. Dollar im vergangenen Jahr, berichtet ResponsAbility, eine auf Mikrokreditinstitutionen spezialisierte Fondsgesellschaft mit Sitz in Zürich.Wo Auskunfteien, Sicherheiten und einklagbare Rechte fehlen, setzen die Institute auf soziale Kontrolle. Die Mikrofinanzanbieter, wozu etwa Nichtregierungsorganisationen, Genossenschaften und gewöhnliche Banken zählen, sehen sich etwa das persönliche Umfeld der Kreditnehmer genau an oder vergeben Darlehen an kleine Gruppen aus Privatleuten, so dass die Schuldner füreinander verantwortlich sind.Auch müssen die Kleinkreditkunden oft erst ihre Zuverlässigkeit bei geringen Summen unter Beweis stellen, ehe größere Darlehen fließen, oder aber die Rückzahlungsraten erfolgen in häufigen Schritten, damit die meist sehr armen Kunden das Geld nicht für andere, ebenfalls dringende Anliegen ausgeben. Frauen werden als Kunden bevorzugt, da sie als zuverlässiger gelten. Die Einschränkungen machen Mikrokredite unflexibel, daher sind informelle Geldgeber nicht verschwunden. Die Zinsen sind aber, wenngleich noch immer hoch, deutlich niedriger. Für einen Kleinstkredit sind, grob geschätzt, 20 bis 25 % an Zinsen fällig, wie ResponsAbility-Chef Rochus Mommartz sagt.Für den gesamten Mikrofinanzsektor, der Kleinunternehmer sowie mittlere Firmen bedient, erwartet die Gesellschaft für 2017 ein Wachstum von 10 bis 15 %. Für weiteres Wachstum gebe es gute Gründe, sagt Mommartz. Die Armut geht in vielen Ländern zurück, die Darlehen werden somit größer, der Aufwand bei der Kreditvergabe damit vergleichsweise geringer. Auch erleichtern Technologien das Geschäft: Ihren Zahlungsverkehr können auch arme Menschen bereits seit vielen Jahren über das Mobiltelefon abwickeln, wie etwa das “M-Pesa”-System in Kenia zeigt. Die erfassten Daten erleichtern es Banken zugleich, die Zahlungsmoral ihrer Kunden einzuschätzen.Darüber hinaus kommt die Regulierung den Mikrofinanzinstituten entgegen. So haben in Indien bereits vor einem Jahr zehn Anbieter vorläufig den Status als “Small Finance Bank” erhalten und nähern sich damit gewöhnlichen Geldhäusern an. Das ebnet den Weg für die Institute, auch Einlagengeschäft zu betreiben. Die Grenze zu herkömmlichen Darlehen verschwimmt, da viele Mikrofinanzinstitute auch kleine und mittlere Unternehmen bedienen.Immer wieder stehen die Institute aber auch vor Rückschlägen. Der zeitweise stark gefallene Ölpreis führte zum Beispiel dazu, dass in vielen exportierenden Staaten die Quote der ausfallgefährdeten Kredite stieg. Zudem trieb eine verschärfte Regulierung in Aserbaidschan die Quote, wie Mommartz sagt. Der Anteil ausfallgefährdeter Krediter in einem Musterportfolio erreichte 8,5 % im zweiten Quartal dieses Jahres, nach 5,7 % ein Jahr zuvor, wie die Gesellschaft berichtet. Indiens Geldschein-DebakelIn Indien haben viele der Quasibanken die Ausgabe neuer Mikrodarlehen vorübergehend sogar auf Eis gelegt, nachdem die Regierung Anfang November über Nacht die Geldscheine für 500 und 1000 Rupien für ungültig erklärt hatte, um Schwarzgeld und gefälschten Scheinen die Grundlage zu entziehen. Indiens größter Mikrokreditgeber, Bandhan Financial Services, stoppte Medienberichten zufolge die Ausgabe neuer Mittel zeitweise, andere Institute reagierten ähnlich. Zudem sank das Volumen der Rückflüsse.Die unerwartete Hauruck-Aktion der Regierung dürfte Anbieter digitaler Zahlungen stärken, denn Unabhängigkeit vom Bargeld ist in Indien nun wichtiger denn je. Für Mikrokreditinstitute ist die umstrittene Aktion ein Rückschritt, zumindest kurzfristig. Geldpolitik ist auch für Kleinstkreditgeber entscheidend.