LEITARTIKEL

Systemtest für die Assekuranz

Die Stürme über den Finanzmärkten dauern an. Die Spur der Verwüstung ist breit, sie walzt aber manche Branchen besonders flächendeckend nieder. Die Folgen der Coronavirus-Krise treffen nicht nur Tourismus- und Automobilindustrie extrem hart, sondern...

Systemtest für die Assekuranz

Die Stürme über den Finanzmärkten dauern an. Die Spur der Verwüstung ist breit, sie walzt aber manche Branchen besonders flächendeckend nieder. Die Folgen der Coronavirus-Krise treffen nicht nur Tourismus- und Automobilindustrie extrem hart, sondern auch die Assekuranz. Seit dem 19. Februar ist der Dax um 37 % eingebrochen, der Stoxx Europe 600 Insurance aber bis Montagabend um 45 %. Die EU-Versicherungsaufsicht EIOPA ermahnt die Versicherer sogar, ihre Kapitalposition in einem ausgewogenen Verhältnis zum Schutz der Versicherer zu halten – kurz: das Geld zusammenzuhalten.Der Alarmismus mag auf den ersten Blick erstaunen. Schließlich erwarten die Versicherer keine exorbitanten Lasten infolge der Pandemie. Stellvertretend hierfür steht der Rückversicherer Munich Re, der seine Kosten selbst im schlimmsten Fall auf die Dimension einer mittleren Naturkatastrophe schätzt. Dies klingt gewaltig, ist aber “nur” ein sehr niedriger Milliardenbetrag und damit kein Systemschock. In der Erstversicherung gerät das operative Geschäft in Einzelfällen wie beispielsweise in der Kreditversicherung beträchtlich unter Druck, weil Konkurse stark steigen werden. Andernorts ist die Belastung dagegen beschränkt. Die Kosten der zusätzlichen Krankheitsfälle werden in einigen Regionen teils durch den Staat aufgefangen, die Risikolebensversicherung ist unter den besonders betroffenen älteren Menschen kaum verbreitet, und die Reiseversicherer schließen Kosten durch eine Pandemie meist aus. Manche Versicherer werden von der Einschränkung des öffentlichen Lebens sogar profitieren. Wer wie die HUK-Coburg auf Autoversicherung spezialisiert ist, spart in diesen Monaten viel Geld. Weniger Verkehr, weniger Unfälle und damit weniger Schäden – so lautet die einfache Regel.Im kurzfristigen operativen Geschäft steckt für die Assekuranz also eher ein Problem der Reputation als der Ökonomie. Wofür steht die Branche, wenn sie abtaucht, sobald es hart auf hart kommt? Kulanz werden die Versicherer daher in manchen Sparten wie der Reiserücktrittsversicherung groß schreiben müssen. Trotzdem rechtfertigt dies keinen überproportionalen Sturz von Unternehmensbewertungen. Ein Systemschock könnte aber durch die Solvenzsituation und die schlechtere mittelfristige Geschäftsperspektive ausgelöst werden.Die Achillesferse bilden die Kapitalanlagen, weil Abschreibungen zu erwarten sind. Der synchrone Fall der Aktienbewertungen und Zinssätze schmälert zwar das Eigenkapital nicht zwingend. So zeigen Modellrechnungen, die die Allianz mit ihren Jahresergebnissen 2019 vorgelegt hat, dass die Effekte gegenläufig sind und sich ausgleichen können – wenngleich sich ausweitende Credit Spreads als zusätzlicher Faktor das Eigenkapital doch verringern. Viel wichtiger aber ist: Alle drei Effekte drücken sofort die Solvenzquote. Diese Kennziffer ist die entscheidende Größe, mit der die Aufsicht die Widerstandsfähigkeit der Branche misst.Auch operativ schlägt die unabwendbare Rezession ins Kontor der Versicherer. Zwar reagieren ihre Umsätze erst einmal nicht auf eine Krise, aber das Neugeschäft wird sinken. In der Lebensversicherung ist mit einem Rückgang der Einmalbeiträge zu rechnen, die das Rückgrat in Deutschland bilden. Die Sachversicherung leidet ebenfalls. Die Bürger werden weltweit sparen, Arbeitslose kündigen verzichtbare Versicherungen, liquiditätsschwache Firmen erhöhen Selbstbehalte.Inwieweit diese Kombination einen Systemschock auslöst, ist ungewiss. Es hängt – wie in vielen anderen Branchen auch – davon ab, wie lange die gesundheitlichen Gefahren und damit die Beschränkungen des Wirtschaftslebens anhalten. Doch selbst bei einer Erholung nach wenigen Monaten dürfte auf die Branche ein Systemwechsel zukommen. Die Lebensversicherer müssen ihre Produkte forcierter als gedacht an ein Umfeld noch niedrigerer Verzinsung anpassen. Die Garantie von Beitragszahlungen dürfte verschwinden. Kapitalintensive Geschäfte könnten auch in der Sachversicherung auf den Prüfstand kommen. Die Versicherung großer Firmen gehört in diese Kategorie.——Von Michael FlämigDie Coronakrise frisst ein Loch in die Kapitalbasis der Versicherer. Die Konjunkturflaute drückt zudem auf das Neugeschäft. Es zeichnet sich ein Systemtest ab.——