LEITARTIKEL

Träume mit Big Data

Ein grauer Morgen im April 2020, 6.30 Uhr. Der Wecker meldet sich: "Guten Morgen, Hans-Peter. Schön, dass du so gut geschlafen hast." (Das Fitnessarmband hat vorher die entsprechenden Daten geliefert). "Zum Frühstück empfehlen wir heute ein...

Träume mit Big Data

Ein grauer Morgen im April 2020, 6.30 Uhr. Der Wecker meldet sich: “Guten Morgen, Hans-Peter. Schön, dass du so gut geschlafen hast.” (Das Fitnessarmband hat vorher die entsprechenden Daten geliefert). “Zum Frühstück empfehlen wir heute ein vitaminreiches Birchermüsli. Und nicht vergessen: Morgen ist Herz-Check-up beim Kardiologen. Bis zum Goldstandard im Tarif Life-fit fehlen dir jetzt nur noch 45 Punkte. Einen schönen Gruß von deiner Krankenversicherung.” Der Bordcomputer im Auto auf der Fahrt zur Arbeit zeigt drei Smileys für die behutsame Fahrweise in der vergangenen Woche und stellt einen Autoversicherungsrabatt von 20 % für diesen Monat in Aussicht. Und wie gut, dass der Kfz-Versicherer mit dem führenden Parkraumbewirtschafter eine gemeinsame App entwickelt hat. Sie weist beim Außentermin den Weg zum nächsten freien Parkplatz.Willkommen in der schönen neuen Versicherungswelt, wie sie sich die Assekuranz erträumt. Die Digitalisierung macht’s möglich. Doch ist der Traum realistisch?Die lange Zeit so behäbige Versicherungswirtschaft ist in Aufruhr. Mit Big Data entsteht eine riesige Spielwiese für Produktideen. Doch die Branche steht noch ganz am Anfang. Es wird viel experimentiert. Und es gibt weit mehr Fragen als Antworten.Ein zentraler Ansatz sind verhaltensbasierte Versicherungsangebote. Am weitesten sind dabei die Autoversicherer mit ihren Telematiktarifen. Wer vorsichtig fährt, zahlt weniger. Als die kleine Sparkassen Direktversicherung (S-Direkt) Anfang 2014 als erster Anbieter in Deutschland damit auf den Markt kam, war die Aufregung groß. Die Datenschützer liefen Sturm gegen die Totalüberwachung der Autofahrer, die für ein paar Euro weniger sich zum gläsernen Kunden machten. Diese Schlacht ist mittlerweile geschlagen. Die Telematiktarife sind im Kommen. Gerade haben die beiden Marktführer Allianz und HUK-Coburg ihre Produkte vorgestellt. Weitere Versicherer wollen im Laufe des Jahres folgen.Doch die Fragezeichen sind groß. Die Preis-Daten-Elastizität ist noch wenig erforscht: Welche Vorteile muss der Versicherer gewähren, damit ihm Kunden in großer Zahl ihre Daten zur Verfügung stellen? Die Allianz jedenfalls ist erst einmal vorsichtig mit den Erwartungen. Rechnen sich die Tarife für die Anbieter im hart umgekämpften Kfz-Versicherungsmarkt überhaupt noch, wenn sie umfangreiche Rabatte gewähren? Dazu kommt möglicher Aufwand für Hardware. Wer wie die HUK-Coburg dem Kunden eine Box ins Auto einbauen lässt, muss diese Kosten erst mal wieder reinholen. Der Pionier S-Direkt jedenfalls lässt seinen Tarif aus betriebswirtschaftlichen Gründen erst einmal auslaufen. Die Kosten seien zu hoch gewesen.Verhaltensbasierte Tarife stoßen auch an andere Grenzen. Wer Risiko zu sehr individualisiert, zerstört das Kollektiv, den Kerngedanken jeder Versicherung. Davor warnte kürzlich BaFin-Präsident Felix Hufeld, aber auch Vorreiter in der Branche wie Axa-Chef Thomas Buberl haben auf die Problematik bereits hingewiesen.Auch die Datenschutzdiskussion ist noch nicht zu Ende: Die Generali Deutschland will ihre Kunden ab Sommer bei gesundheitsbewusstem Verhalten profitieren lassen. Aus Datenschutzsicht sind diese Angebote viel problematischer, da Fitnessarmbänder und andere Wearables den Kunden quasi rund um die Uhr überwachen und nicht nur, wenn er ins Auto steigt. Die Skepsis der datenkritischen deutschen Verbraucher dürfte hier noch ein Stück größer sein.Um die Akzeptanz der Datenpreisgabe grundsätzlich zu erhöhen, denken sich die Versicherer derzeit viele nützliche, manchmal alberne digitale Spielereien aus, die das Leben erleichtern sollen. Die Versicherer wollen damit nicht nur im Schadenfall mit ihren Kunden in Kontakt zu kommen. Doch die alles entscheidende Frage lautet: Will der Kunde das überhaupt? Soll der Versicherer nicht das bleiben, was er ist – der finanzielle Rückhalt in existenzieller Not – und kein ständiger Begleiter im Alltag?Chancen in der wachsenden Sharing Economy könnten indes mobile Kurzfrist-Versicherungsprodukte haben. Wer sich das Auto vom Nachbarn leiht, schließt per App eine Kurzzeit-Police ab. Doch Riesenvolumina an Geschäft sind damit wohl auch nicht zu erwarten.Womöglich sieht die Versicherungswelt von morgen für die meisten Kunden doch nicht ganz so anders aus. Und Hans-Peter könnte morgens ohne schlechtes Gewissen ein Croissant frühstücken.——–Von Antje KullrichIn Sachen datenbasierter neuer Produkte stecken die Versicherer noch im Experimentierstadium. Es gibt mehr Fragen und Risiken als Antworten.——-