Verhaltensökonomie erklärt ESG-Zurückhaltung

Behavioral Finance zeigt, wo sich Investment Professionals bei der Analyse kognitiv und emotional im Wege stehen

Verhaltensökonomie erklärt ESG-Zurückhaltung

In der empirischen Kapitalmarktforschung hat sich im Rahmen von ESG-Ansätzen (Environment, Social, Governance) die Analyse umfangreicher Datenbanken durchgesetzt. In den letzten Jahren und Jahrzehnten konnten hier zahlreiche, sehr aufschlussreiche Ergebnisse mit Hilfe dieser Archival-Daten zu finanziellen und nichtfinanziellen Informationen gewonnen werden. Insbesondere der Zusammenhang zwischen finanzieller und nichtfinanzieller Performance ist immer wieder Gegenstand von wissenschaftlichen und praxisorientierten Studien. Eine Analyse dieser Studien zeigt, dass in über 90 % der ausgewerteten Studien ein nichtnegativer Zusammenhang zwischen finanziellem und nichtfinanziellem Erfolg beobachtet werden kann.Häufig kommt bei diesen Studien aber das (oft nichtrationale) Verhalten von Kapitalmarktakteuren zur Erklärung der Ergebnisse zu kurz. Gerade hieraus können aber aufschlussreiche Empfehlungen für das eigene Verhalten und die Antizipation der Verhaltensweisen anderer Akteure abgeleitet werden. In diesem Beitrag fassen wir deshalb die wesentlichen wissenschaftlichen Erkenntnisse zusammen. Sind wir alle irrational?Für die konventionelle Ökonomie ist eine Entscheidung rational, wenn sie a) alle Informationen, die dem Entscheider vorliegen, verarbeitet, wenn b) sie mögliche Konsequenzen der Entscheidung einbezieht, und c) wenn sie, falls die Konsequenzen unsicher sind, für die Konsequenzen Wahrscheinlichkeiten berechnet, ohne dabei die Gesetze der Wahrscheinlichkeitstheorie, zum Beispiel Bayes Theorem, zu verletzen.Beim Entscheiden, mitunter nicht nur beim intuitiven, verlassen sich Menschen häufig auf einfache Entscheidungsregeln, sogenannte Heuristiken. Heuristiken ersparen dem Entscheider Aufwand und Zeit und tauchen häufig in Routinesituationen auf. Die Verhaltensökonomen Amos Tversky, Daniel Kahneman und Kollegen beschäftigen sich im Wesentlichen mit den systematischen Verzerrungen (engl. biases), die durch Heuristiken verursacht werden können. Wir gehen davon aus, dass Heuristics and Biases grundsätzlich bei der Verarbeitung von ESG-Informationen Auswirkungen haben. Nicht nur abstrakte KonzepteESG-Themenkomplexe wie Klimawandel, Supply-Chain-Risiken und Korruption sind nicht nur abstrakte Konzepte theoretischer Risiken, sondern sind in Form von Klimaerwärmung, Berichten über Kinderarbeit in Bangladesch oder Korruptionsfälle über Medien öffentlich verfügbar – auch für Investment Professionals. Rational-ökonomisch betrachtet, müssen Investment Professionals motiviert sein, alle Risiken und Chancen (inklusive ESG) zu kennen. Professionals sind Experten für die Bewertung von Assets, die sich ein Bild über alle akuten und latenten Risiken des Unternehmens machen und zu diesem Zweck alle verfügbaren und relevanten Informationen einbeziehen, nicht nur Finanzdaten oder traditionelle ökonomische Sachverhalte. ESG-Informationen, wie sie heute en courant sind, mögen mitunter noch konzeptionell komplex sein und formelle Mängel haben, sie mögen mitunter auch irrelevante Themen beinhalten, aber: Sie sind als Beschreibungen verfügbar und bieten zumindest Indikationen über Kausalitäten im Zusammenhang mit ESG.Im Folgenden werden unter dem Begriff Heuristics and Biases (HB) im Wesentlichen auf Basis der Arbeiten von Tversky, Kahneman und Kollegen wesentliche Konzepte zu den Wirkungen von Heuristiken und ihrer Verzerrungen diskutiert.Annahme 1: ESG-Missachtung wird beeinflusst durch die Availability-Heuristik (AH).Es ist für Investment Professionals einfacher, Investment-Heuristiken wie Kennzahlen (zum Beispiel P/E-Ratios) für Vorhersagen über Unternehmen zu verwenden, als beispielsweise ESG-Schlüsselindikatoren (KPI). Investment-Heuristiken wie P/E- oder P/B-Ratios mögen zwar eine begrenzte Aussagekraft besitzen, sind aber aufgrund ihrer starken Verbreitung im Kapitalmarkt leichter verfügbar und intuitiver als wesentlich komplexere ESG-bezogene Risiken und Chancen. Diese intuitiven Ergebnisse werden ebenfalls als glaubwürdiger eingeschätzt, was einen eigenen Bias darstellt.Hypothetische Ereignisse erfahren durch Erklärungen oder die Stimulierung von Vorstellung darüber (imagination) bei Testteilnehmern eine höhere Einschätzung ihrer Wahrscheinlichkeit. Dabei scheint die Beurteilung, wie leicht oder schwierig Vorstellungen zu entwickeln sind, einen Einfluss auf die Beurteilung der Eintrittswahrscheinlichkeit zu haben: je schwieriger sich ein Ereignis vorstellen (hervorrufen) lässt, für umso unwahrscheinlicher wird es gehalten. ESG-bedingte oder -verursachte Ereignisse treten in der Erfahrungswelt von Investment Professionals weitaus seltener auf als ökonomische Ereignisse, sind also weniger vorstellbar, werden deshalb vermutlich als weniger wahrscheinlich eingeschätzt.Annahme 2: ESG-Missachtung wird beeinflusst durch die Representativeness-Heuristik (RH).Representative Heuristics (RH) bedeuten, dass Individuen die Wahrscheinlichkeit eines unsicheren zu-künftigen Ereignisses auf der Basis bewerten, wie ähnlich das Ereignis in Bezug auf eine Kategorie von Ereignissen ist. Wenn Kategorien von signifikanten Umwelt- oder Governance-Ereignissen nicht im Erfahrungsschatz von Investoren existieren, werden Ereignisse dieser Art als untypisch klassifiziert. Biases könnten sich zum Beispiel dadurch ergeben, dass ein Ereignis als nicht repräsentativ für eine Ereignisklasse angesehen wird. Dies kann zum Beispiel Beschreibungen von Risiken betreffen, die fälschlicherweise als untypisch für unternehmerische Risiken wahrgenommen werden oder deren Ausprägungen auf Sonderfälle hinweisen, damit als untypisch verkannt werden.Möglicherweise trifft dies auf ESG-Risiken zu: Wir nehmen an, dass Beschreibungen der Auswirkungen von ökologischen, gesellschaftlichen und Governance-Faktoren mitunter als spezifisch und singulär abgetan werden, das heißt, sie werden nicht als typisch für Beschreibungen von Tatbeständen angesehen, die für eine Kalkulation unternehmerischer Risiken oder Chancen notwendig sind.Verhaltensökonomen postulieren, dass RH und AH auf einer simplen Verhaltensweise basieren: wenn Menschen mit einer schwierigen Frage konfrontiert sind, beantworten sie eine einfachere Frage, ohne sich darüber im Klaren zu sein. Im Finanzmarkt ist ein “Klassiker”, dass eine gut performende Aktie als Beleg dafür genommen wird, der Emittent sei damit zwingend ein gutes und solides Unternehmen. Ein Blick auf die jüngsten Corporate-Governance-Ausfälle deutscher Unternehmen zeigt die Verzerrung der Wahrnehmung an diesem Punkt.Annahme 3: ESG-Wahrnehmung wird beeinflusst von einer Vielzahl weiterer Heuristiken und Biases.Unter Umständen werden ESG-Daten deshalb nicht in Investmentanalysen einbezogen, weil sie einerseits aufgrund ihrer separaten Berichterstattung und ihres Namens als non-economic events gelesen werden und andererseits dort nicht auftauchen, wo ökonomische Sachverhalte abgebildet werden, zum Beispiel in den Finanzberichten. Die Narrative von ESG sind nicht repräsentativ, und sie sind zumeist nicht verfügbar (available).Weitere verhaltensökonomische Phänomene können ESG abträglich sein: Investoren haben meistens schon ein Bild, einen Befund oder eine Bewertung zu einem Asset im Kopf – einen Anker. Treffen Investoren dann auf neue Informationen, die eine Überprüfung ihres Urteils nahelegen, dann passen sie ihre Urteile in den meisten Fällen zu wenig an. Hier setzen auch noch andere Phänomene ein. Es ist bekannt, dass die Suche nach Informationen, die eine Entscheidung oder ein Werturteil belegen, oft durch einen Confirmation Bias geprägt ist, der dazu führt, dass nur die belegenden, nicht jedoch die dem Urteil widersprechenden Beweise ins Kalkül gezogen werden. Dies betrifft die Art der Informationen, nach denen gesucht wird, den Ort, an dem sie gesucht werden, und die Intensität und Dauer, mit der recherchiert wird. “Trampelpfad” oft zu engAus unzähligen Berichten bekannte Umwelt- und Menschenrechtskatastrophen, in die Unternehmen involviert waren, werden nicht gesehen, weil der “Trampelpfad”, auf dem gesucht wird, oft zu eng und zu kurz ist. Die Suche stoppt, wenn das gewünschte Ergebnis ausreichend belegt ist (für den Zweck des Investors, aber nicht im Sinne der rational-ökonomischen vollständigen Informationsverarbeitung). Wichtig dabei ist, dass dieser Prozess nicht auf der Ebene des bewussten Entscheidens stattfindet, sondern quasi unterbewusst.Ein anderer, weitaus komplexerer Bias ist das intertemporale Diskontieren. Die rationale Ökonomie kennt den Zeitwert des Geldes, nach dem Investoren linear diskontieren. Akteure in Finanzmärkten (auch Konsumenten) diskontieren in aller Regel aber hyperbolisch: Sie überbewerten naheliegende Profite exzessiv und bewerten weiter in der Zukunft liegende Ereignisse weit unter dem linearen Maß.Hierzu ein Beispiel: Dass Energieversorger Kraftwerke betrieben, die in Zeiten von regenerativen Energien und CO2-Zertifikaten kaum noch zukunftsfähig waren, war den meisten Investoren bekannt. Veraltete Kohle- und Gaskraftwerke würden früher oder später “stranded assets”; verantwortungsbewusste Investoren setzten den Wert sehr gering an, da zukünftige positive Ereignisse aufgrund des höheren im Nenner berücksichtigten Risikos stärker diskontiert werden. Bei den meisten Investoren wurden die latenten stranded assets aber ausgeblendet, da ein Ereignis, das irgendwann eintritt, das noch dazu exzessiv diskontiert wird, im Hier und Heute der kurzfristigen Profite der nächsten zwei Quartale keine Rolle spielt. Auch hier gilt, dass es nicht so sehr bewusste Entscheidungen sind, die vom intertemporalen Diskontieren betroffen waren, sondern eine Präferenzorientierung, die trotz Bewusstseins um das latente Risiko von stranded assets (kognitiv, rational) im Handeln kurzfristige Profite überbewertet (Affekt, nichtrational). Geringer BeitragHeuristiken finden sich überall im Finanzmarkt und daher auch bei der ESG-Nutzung. Sie erschließen sich allerdings erst, wenn man sie der konventionellen Ökonomie gegenüberstellt. Die konventionelle, rationale Ökonomie hat bislang wenig dazu beigetragen, dass ESG im Finanzmarkt Mainstream wird. Dies kann Behavioral Finance leisten, indem sie dem “echten” Menschen zeigt, wo er sich bei der ESG-Analyse kognitiv und emotional selber im Wege steht.—-Alexander BassenInhaber des Lehrstuhls für Kapitalmärkte und Unternehmensführung an der Universität Hamburg—-Ralf FrankGeschäftsführer und Generalsekretär der DVFA