GASTBEITRAG

Versicherer müssen mit IFRS 17 weiteres Mammutprojekt stemmen

Börsen-Zeitung, 19.5.2017 20 Jahre hat das International Accounting Standards Board (IASB) gebraucht, um einen International Financial Reporting Standard (IFRS) für Versicherungsverträge fertigzustellen. Gestern wurde der IFRS 17 veröffentlicht. Es...

Versicherer müssen mit IFRS 17 weiteres Mammutprojekt stemmen

20 Jahre hat das International Accounting Standards Board (IASB) gebraucht, um einen International Financial Reporting Standard (IFRS) für Versicherungsverträge fertigzustellen. Gestern wurde der IFRS 17 veröffentlicht. Es hat so lange gedauert, weil Versicherungsprodukte und deren Bilanzierung nach nationalen Vorschriften von Land zu Land stark abweichen, insbesondere in der Lebensversicherung. Zunächst wollten alle so weit wie möglich an ihren bewährten Bilanzierungspraktiken festhalten, wie beispielsweise in Deutschland an der Schwankungsrückstellung. In den USA wurde der Druck der Versicherer letztlich so stark, dass das US-amerikanische Financial Accounting Standards Board (FASB) 2016 eigene Vorschläge für US GAAP vorgelegt und sich dem gemeinsamen Projekt entzogen hat. Viel Arbeit geleistetInsofern hatte das IASB schon einiges an Arbeit zu leisten, bevor es im Jahr 2007 ein Diskussionspapier veröffentlichte. Das sah für Versicherungsverträge eine Zeitwertbilanzierung vor, ähnlich wie Solvency II. Eine Einheitsbilanz für Aufsichts- und Informationszwecke schien in greifbarer Nähe. Im IFRS-Abschluss sollten die jeweiligen Veränderungen des Eigenkapitals als Gewinn oder Verlust der Periode auszuweisen sein. Die Finanzkrise im Jahr 2008 zeigte die Unzulänglichkeiten auf: Die Volatilitäten der Market Consistent Embedded Values ließen erahnen, welche Auswirkung eine Zeitwertbilanzierung auf Aktiv- als auch Passivseite bei Versicherungsunternehmen in den Abschlüssen gehabt hätte.Das IASB hat aus der Finanzkrise gelernt und ist von der Zeitwertbilanzierung für Versicherungsverträge abgerückt. Die Erfüllung der Verpflichtung gegenüber den Versicherungsnehmern und nicht der Verkauf ist der Bewertungsmaßstab unter IFRS 17. Des Weiteren hat das IASB die Konsequenz gezogen, dass erwartete Gewinne nicht beim Abschluss des Vertrages in der Gewinn-und-Verlust-Rechnung zu erfassen, sondern zu verteilen sind, und zwar entsprechend der Leistungserbringung. Zur Objektivierung schreibt IFRS 17 pauschal die gleichmäßige Verteilung über die Laufzeit vor. Das entsprach aber nicht mehr dem Gedanken von Solvency II. Solvency II wollte die Entwicklungen beim IASB nicht mehr abwarten. Beide Projekte haben sich seitdem getrennt entwickelt, mit der Konsequenz, dass die Versicherer abweichenden Regeln entsprechen müssen.Aus der Zeitwertbilanz übernommen hat IFRS 17 die Bewertung der Finanzrisiken und Abzinsung der Rückstellungen mit aktuellen, marktkonsistenten Annahmen. Verbunden mit einer Zeitwertbilanzierung der Kapitalanlagen werden so Abweichungen in den Durationen in der Bilanz offengelegt. Damit Zinsänderungen das Ergebnis nicht zu volatil machen, greift IFRS 17 auf die bereits für Finanzinstrumente bekannte Praxis zurück: Die Versicherer haben die Wahl zinsbedingte Wertänderungen nicht in der Gewinn-und-Verlust-Rechnung, sondern im sogenannten “other comprehensive income” auszuweisen. Das macht die Anwendung kompliziert, da die Rückstellungen jeweils zweimal gerechnet werden müssen, nämlich einmal mit dem aktuellen Marktzins und zum anderen mit einem historischen Zins. Das ist der Preis für die Glättung der Ergebnisse.Für die Kapitalanlagen ist die Möglichkeit, Wertänderungen in “other compreshensive income” zu erfassen, grundsätzlich begrenzt auf bestimmte Rententitel. Und wenn sie für Aktien genutzt wird, dürfen Abgangsgewinne nie als Gewinn gezeigt werden; das ist nicht attraktiv. Entsprechend ist die Option für die versicherungstechnischen Rückstellungen nur begrenzt sinnvoll. Die verbleibende Volatilität wird den Druck erhöhen, der bereits durch Solvency II entstanden war, Garantien abzubauen und die Kapitalanlagenallokation stärker an die Passivseite anzupassen. Rückversicherung betroffenAuswirkungen wird der IFRS 17 auch auf die Rückversicherung haben: sämtliche erwartete Zahlungen aus Rückversicherungsverträgen sind anzusetzen, sowohl beim Zedenten als auch beim Rückversicherer. Die Versicherer werden im Einzelnen überprüfen müssen, ob mit der Rückversicherung angestrebte bilanzielle Effekte auch unter dem neuen IFRS 17 eintreten werden.Die angesprochene Verteilung von Gewinnen über die Laufzeit verstetigt zwar die Ergebnisse, sie ist aber im Anhang transparent zu machen. IFRS 17 erfordert die Angabe der erwarteten Gewinne aus dem Neugeschäft. Das erhöht die Transparenz nicht nur für Investoren, sondern auch für Konkurrenten und Kunden. In Phasen harter Versicherungsmärkte kann diese Information argumentativ in Preisverhandlungen einfließen und Preiszyklen kürzen. Über das Ziel hinausAn manchen Stellen schießt IFRS 17 mit der beabsichtigten Transparenz und Vergleichbarkeit über das Ziel hinaus. Signifikante Änderungen gibt es in der Darstellung der Gewinn-und-Verlust-Rechnung: Sie wird nicht mehr wie bislang mit den Prämien als Ertragsgröße starten. Stattdessen definiert IFRS 17 den Umsatz aus Versicherungsgeschäften neu. So sollen Einzahlungen von einem Versicherungsnehmer, die an diesen wieder zurückgezahlt werden, sowohl beim Umsatz als auch bei den Versicherungsleistungen eliminiert werden. Damit wird die Erfolgsrechnung um die Sparanteile sowie Finanzierungskomponenten verschlankt. Klassische Bilanzkennzahlen, die bislang auf die entsprechenden Größen zurückgegriffen haben, sind neu zu definieren. Es wird dauern, bis neue, aussagefähige Zeitreihen vorliegen.Neu ist auch das Verständnis und die Darstellung der Überschussbeteiligung: Das, was dem Versicherer nach der Überschussbeteiligung an Gewinn, zum Beispiel aus der Kapitalanlage verbleibt, wird nicht als Anteil der Gesellschaft am aktuellen Rohüberschuss verstanden, sondern die Ergebnisse werden gedanklich im ersten Schritt den Versicherungsnehmern zugeordnet und das Versicherungsunternehmen kann sich im zweiten Schritt eine Gebühr einbehalten. Erwartete Veränderungen dieser Gebühr werden dann wie anfängliche Gewinne über die Zeit verteilt. Das ist insoweit auch richtig, da es sich um eine Änderung der erwarteten Profitabilität handelt. Auch diese Sichtweise wurde gewählt, um die Volatilität, hier bezogen auf den Aktionärsanteil, in den langlaufenden Versicherungsgeschäften zu reduzieren.Der neue Standard wird das erste Mal für das Geschäftsjahr 2021 anzuwenden sein. Damit steht den Versicherungsunternehmen nach Solvency II ein weiteres Mammutprojekt bevor. Datensysteme und Prozesse sind innerhalb der nächsten drei Jahre anzupassen, um 2020 die Zahlen der Vergleichsperiode ermitteln zu können. Parallel dazu ist IFRS 9 für Finanzinstrumente umzusetzen, der eigentlich schon 2018 anzuwenden ist. Doch haben reine Versicherungsgruppen einen Aufschub bekommen, um Aktiv- und Passivseite nicht zweimal innerhalb kurzer Zeit ändern zu müssen. Die Versicherer müssen sich nun fragen, ob sie dies über Modifizierung und Ergänzungen vorhandener Systeme und Prozesse bewerkstelligen können und wollen. Oder ist es nicht an der Zeit das gesamte Berichts- und Finanzwesen neu aufzustellen, um die verschiedenen Anforderungen aus IFRS, Solvency II und Unternehmenssteuerung zentral und konsistent bedienen zu können? Transparenz gefährdetIFRS 17 ist ein komplexer Standard, was nicht zuletzt dem Anliegen der Versicherungswirtschaft geschuldet ist, Volatilität aus den Ergebnissen herauszuhalten. Der Standard enthält zahlreiche Interpretations- und Beurteilungsspielräume. Das gefährdet das Ziel transparenterer Abschlüsse. Transparenz und Vergleichbarkeit der Abschlüsse hängen davon ab, ob die maßgeblichen Parameter einheitlich gewählt und Auslegungsfragen schnell geklärt werden. Dem stehen hohe Umstellungs- und Verwaltungskosten gegenüber. Die Suche nach der richtigen Versicherungsbilanz wäre dann am Ziel, wenn die IFRS-Abschlüsse für Solvency II maßgeblich und konzeptionell bedingte Abweichungen auf ein Mindestmaß reduzieren.—-Frank Ellenbürger, Partner, Bereichsvorstand Insurance, KPMG AG Wirtschaftsprüfungsgesellschaft —-Joachim Kölschbach, Partner, Audit, KPMG AG Wirtschaftsprüfungsgesellschaft