GASTBEITRAG

Versicherungsmarken - unterschätztes digitales Gold

Börsen-Zeitung, 2.4.2016 Es sind diese kleinen Dinge, die richtig nachdenklich machen können. Vor Jahren, als meine Kinder noch nicht davon überzeugt waren, dass sie Erwachsenen in digitalen Angelegenheiten turmhoch überlegen sind, kamen sie auf...

Versicherungsmarken - unterschätztes digitales Gold

Es sind diese kleinen Dinge, die richtig nachdenklich machen können. Vor Jahren, als meine Kinder noch nicht davon überzeugt waren, dass sie Erwachsenen in digitalen Angelegenheiten turmhoch überlegen sind, kamen sie auf eine bemerkenswerte Fragestellung: “Wie seid Ihr eigentlich früher ins Internet gekommen, als es noch keine Computer gab?”. Es bringt wenig, über die nahezu genialen Abgründe dieser Frage zu philosophieren. Halten wir einfach fest, dass heute ernstzunehmende Menschen heranwachsen, die mit einer digitalen Welt völlig anders umgehen, als wir es tun. Das ist der Lauf der Dinge. Hüter eines DatenschatzesWas passiert aber in diesem Lauf der Dinge mit einer Industrie, deren Geschäftsmodell darin besteht, ganze Lebenswelten durch Daten so umfassend wie möglich abzubilden? Genau dies leistet die Versicherungswirtschaft. Sie kann diese Daten sogar prognostisch auf die Zukunft hochrechnen. Kaum eine Industrie hat über viele Jahrzehnte ein solches Wissen über Menschen und Unternehmen angesammelt wie die Versicherungswirtschaft. Ein Versicherungsangestellter zuckt hier nur mit den Schultern – ja und? Das ist sein Tagesgeschäft. Aus einem digitalen Blickwinkel ist diese Kompetenz der Jackpot. Die Assekuranz sitzt auf einem unermesslichen Schatz. Die Währung der Zukunft sind nicht Dollar, Euro oder Renminbi, sondern Daten. In Asien sollen sich findige Unternehmer damit beschäftigen, Verbrauchern ein Auto umsonst für einen bestimmten Zeitraum zur Verfügung zu stellen – unter der Bedingung, dass die Fahrer ihre Nutzer- und Bewegungsdaten dem Autoanbieter überlassen. Vielleicht ist diese Geschichte eine Ente, aber sie beschreibt ein plausibles digitales Geschäftsmodell.Wenn wir eine solche Idee auf die Assekuranz projizieren, wird es spannend: Was machen wir, wenn es Unternehmen gibt, die z. B. Versicherungsleistungen extrem günstig oder sogar kostenfrei anbieten, nur mit dem Ziel, die daraus extrahierten Kundendaten zu vermarkten? Die Idee, Daten von Versicherungskunden extensiv als Geschäftsmodell zu nutzen, um die eigene Wertschöpfungskette profitabel zu verlängern, ist aus Branchensicht tabu und mit rechtlichen Hürden versehen. Tabuzonen durch Denkverbote bieten aber gerade für neue digitale Mitspieler unternehmerisch attraktiven Handlungsraum.Zwangsläufig führt das zur Frage, was die Versicherer tun können, um ihr Geschäftsmodell besser abzusichern. Derzeit handeln sie richtig: Die Unternehmen entwickeln digitale Lösungskonzepte für ihre Kunden. Die Branche rollt dem Verbraucher einen digitalen roten Teppich aus.Hier erwächst der Assekuranz aber das eigentliche Problem. Indem die Versicherer ihre Leistungen digitalisieren, senken sie die Eintrittsbarriere für neue digitale Mitspieler, um in diesen Markt zu gelangen. Das ist das Grundprinzip der Digitalisierung: Sie räumt Marktbarrieren zur Seite und öffnet Märkte für neue Akteure mit anderen Geschäftsmodellen. Diese Akteure profitieren davon, dass die Wertschöpfungsketten der Versicherer in einem hohen Maße austauschbar sind. Produktentwicklung, Schaden- und Bestandsmanagement sowie Vertrieb sind nicht nur aus digitaler Sicht relativ fungibel. Es sind veräußerbare Elemente aus der Fertigungstiefe der Assekuranz, die auch durch Dritte durchgeführt werden können.Genau diesen Umstand nutzen Fintechs bzw. Insuretechs. Allerdings: Die derzeit aktiven Insuretechs sind nicht die eigentliche Herausforderung, und disruptiv sind sie auch nicht. Sie bewegen sich innerhalb unserer Wertschöpfungsketten und kopieren unsere Leistungen. Möglicherweise sind sie nur die Vorhut für die eigentlichen Sprengmeister unserer Industrie. Diese können unser Geschäftsmodell knacken, weil sie es für ihre Wertschöpfung nicht zwingend brauchen. Für sie sind Versicherungsleistungen nur Mittel zum Zweck, um an vermarktbare Daten zu gelangen. Das jedenfalls wäre mal ein disruptiver Ansatz, der diesen Namen auch verdient.Wir sollten uns daher sehr zügig auf die Suche nach unveräußerlichen Assets machen, die unsere Unternehmen schützen und mehr als verdeutlichen, wofür sie stehen. Ganz oben auf dieser Liste rangiert das Thema Marke. Nicht umsonst lässt sich eine Marke auch als “promise of future income” definieren und liefert so einen wichtigen strategischen Ansatzpunkt für Versicherungsunternehmen.Marke ist direkte Kundenkommunikation. Hochverdichtet, emotional und äußerst effizient zeigt eine Marke den Menschen in Sekundenbruchteilen, wofür sie steht. Starke Marken sind immer bedeutsam, lösungskompetent und eben nicht austauschbar. Eine moderne Marke betrachtet Verbraucher nicht als eine Ansammlung von eindimensionalen Konsumenten, sondern als Menschen, die in ihrem Konsumverhalten nach Sinn und Bedeutsamkeit suchen. Dies mag für versicherungstechnisch gestählte Manager esoterisch klingen – ist aber nichts anderes als die zwingende Voraussetzung für Relevanz im Markt. Horizont erweiternDigitalisierung bietet der Assekuranz die einmalige Chance, ihre Kommunikationsbemühungen und Kundenbindung sehr effizient neu zu gestalten. Wir müssen unsere Markenwelten neu ausrichten. Das ist nicht mit klassischem Marketing oder Werbung zu schaffen. Marketing ist ein Bestandteil des markenstrategischen Instrumentariums. Ebenso gehört die gesamte Kommunikationsleistung eines Unternehmens von der PR über die Mitarbeiter- und Vertriebskommunikation bis hin zur politischen Kommunikation dazu. Markenstrategische Handlungsfähigkeit ist der am stärksten unterschätzte Erfolgsfaktor in den Digitalisierungsbestrebungen der Branche. Wenn wir sicherstellen wollen, dass wir auch im digitalen Umfeld unser Geschäft bis zur Kundenschnittstelle beherrschen, dann sind stark positionierte Versicherungsmarken klar im Fokus. Effiziente Markenstrategie schafft Relevanz, Bedeutsamkeit und Kundenbindung. Allerdings ist markenstrategisches Denken nicht das Steckenpferd der Assekuranz. Wir müssen unseren Horizont rasant erweitern, um nicht zu den Getriebenen in einer neuen Zeit zu werden.—-Klaus Heiermann, Generalbevollmächtigter und Markenchef der Arag