GASTBEITRAG

Versicherungswirtschaft kann Innovation

Börsen-Zeitung, 29.9.2016 Die Bedrohung der Versicherungswirtschaft durch disruptive Veränderungen wird vielfach als sehr gering eingeschätzt. Zudem gilt der Begriff "Versicherungsinnovation" als Widerspruch in sich. Beide Wahrnehmungen sind...

Versicherungswirtschaft kann Innovation

Die Bedrohung der Versicherungswirtschaft durch disruptive Veränderungen wird vielfach als sehr gering eingeschätzt. Zudem gilt der Begriff “Versicherungsinnovation” als Widerspruch in sich. Beide Wahrnehmungen sind gänzlich unzutreffend.Die Grundlage für den Erfolg der Versicherungsbranche ist und war immer ihre Innovationsfähigkeit. Seit jeher mussten Versicherungen den technischen Wandel aufgreifen und so auf sich ändernde Kundenbedürfnisse reagieren. Ohne die finanzielle Absicherung der Assekuranz gäbe es beispielsweise keine Satelliten- und Solartechnologie, keine schwimmenden Brücken oder Windturbinen. Dieses Innovationsverhalten ist jedoch bis heute weitgehend inkrementell, vorsichtig und schleppend. Um auch zukünftig erfolgreich sein zu können, muss die Versicherungsbranche zu tiefgreifenden Veränderungen bereit sein und Innovationen schneller vorantreiben.Die Historie zeigt, dass selbst erfolgreiche Unternehmen Gefahr laufen, zur Bedeutungslosigkeit zu schrumpfen oder sogar ganz zu verschwinden: In den vergangenen Jahrzehnten hat die Hälfte der Fortune-500-Unternehmen die Liste verlassen – sie haben mit den stetigen Veränderungen nicht Schritt halten können. Dabei sind die technologischen Entwicklungen nicht die Ursache – neue Technologien sind lediglich Werkzeug und Wegbereiter. Grund ist mangelnde Führung. In unserer sich rasch ändernden Welt wird nur derjenige Erfolg haben, der Weitblick, Mut und Führungsstärke beweist. Schneller und mutigerTatsächlich scheint die Branche mit ihren Antworten auf den grundlegenden Wandel unserer zunehmend digitalen Wirtschaft schneller und mutiger zu werden, aus gutem Grund. Denn die traditionellen Versicherer erleben die Veränderungen inzwischen hautnah, nicht zuletzt durch die Konfrontation mit disruptiv wirkenden Start-ups. Die Investitionen in Insurtechs, die Start-up-Szene mit Versicherungsbezug, sind von 0,7 Mrd. Dollar im Jahr 2014 auf 2,65 Mrd. Dollar im Jahr 2015 gestiegen, und dieser Trend setzt sich 2016 fort. Versicherer antworten mit Ideenschmieden wie Start-up-Garagen, Inkubatoren, Akzeleratoren und Labs, um die Branche in die Zukunft zu führen.Der harte Wettbewerb um Innovationen in der Versicherungsbranche wird angetrieben von den Herausforderungen der sich immer schneller ändernden digitalen Welt. Beispiele dafür sind:1. Die Digitalisierung verändert den Versicherungsvertrieb grundlegend. Reine Online-Akteure gewinnen Marktanteile, und das One-Click-/One-Stop-Shopping wird immer mehr zur Norm.2. Die wachsende Rolle digitaler Technologien führt zu neuen Risiken und Deckungen: z. B. gegen Datenschutzverletzungen und Datendiebstahl.3. Die Nutzung von Echtzeitinformationen (z. B. Telematik) löst die Analyse historischer Daten mehr und mehr ab. Dies wiederum treibt Preistransparenz und neue Preismodelle voran, wie z. B. das Prinzip “Bezahle, wie du fährst”.4. Kunden als Mitbewerber: Hersteller und Einzelpersonen werden die Risikomanager von morgen.Das Geschäftsmodell der Versicherung wandelt sich von der Risikoübernahme zur Risikominderung. Beispielsweise werden autonome Fahrzeuge und das Internet der Dinge zu einer deutlichen Verringerung von Schäden führen. Damit sinken auch die Prämien für herkömmliche Kfz-, Hausrat- und Betriebsdeckungen.Die Versicherungsbranche muss alles von Grund auf überdenken: Wie sie Daten erhebt und auswertet, welche Werte sie für ihre Kunden schafft, wie sie ihre Produkte und Dienstleistungen vermarktet und wo sie die Talente findet, die den Wandel gestalten. Vor allem muss der Fokus der Versicherer darauf liegen, eine Unternehmenskultur zu fördern, in der experimentiert und zusammengearbeitet wird und in der die eigenen Fundamente des bisherigen Erfolges mutig hinterfragt werden können. Tun sie das nicht, dann werden es andere übernehmen und die traditionellen Versicherer überholen. Überleben werden die, die eine klare Vision, ein agiles Geschäftsmodell, kundenzentrierten Versicherungsschutz und die richtige Führung haben.Führungskräfte müssen sich diesen Wahrheiten stellen und einen strukturierten Ansatz entwickeln, um den Herausforderungen zu begegnen. Struktur ist der Kern, denn entgegen der landläufigen Meinung “passiert” Innovation nicht von selbst, in der unstrukturierten Umgebung einer freien Denkwerkstatt. Vielmehr braucht sie gewisse Rahmenbedingungen und Vernetzung. Zum einen müssen Schwerpunkte gesetzt, Netzwerke geknüpft sowie Aktivitäten koordiniert und ausgeführt werden. Zum anderen müssen Mitarbeiter ermutigt werden, Ideen auszutauschen und zu experimentieren. Diese Balance bedingt gute Führung. Führung ist notwendigFührung ist ebenso notwendig, um die “weichen” Faktoren zu adressieren, die benötigt werden, um eine Innovationskultur im Unternehmen zu schaffen. Diese kulturellen Kernelemente sind enge Zusammenarbeit, erfahrungsgestütztes Lernen sowie ganzheitliche Entscheidungsmodelle.Innovationsorientierte Führungskräfte sorgen dafür, dass verschiedene Blickwinkel und Kompetenzen sowohl von innerhalb als auch außerhalb des Unternehmens in den Entscheidungsprozess einbezogen werden. Egozentrische Vorgehensweisen (“made here by me”) haben in einer innovativen Umgebung keinen Platz. Im Mundi Lab von Munich Re in Spanien arbeiten wir beispielsweise mit vielversprechenden Start-ups und Kunden zusammen. Dort nutzen wir das Prinzip der Co-Creation, um Produkte, Plattformen und Technologien gemeinsam zu entwickeln, damit unsere Branche die künftigen Anforderungen schneller erkennt und erfüllen kann. Wir testen Pilotprojekte und lernen aus Rückmeldungen und Fehlern.Entscheidend ist, dass sich alle offen über Fehler austauschen, und zwar vom Vorstand angefangen über alle Organisationseinheiten hinweg. Wir nutzen bei Munich Re hierzu Foren, wie z. B. die sogenannte “Learning Night”, in der Fehlschläge und die Erkenntnisse daraus mit anderen geteilt werden. Wir bauen auf externen Perspektiven auf und binden die Meinung von jungen Kollegen, der Generation Y, ein. In den innovativen Zentren weltweit haben wir Scouts positioniert und erweitern dadurch aktiv unseren Horizont. Wir vergrößern damit nicht nur unser Know-how, sondern identifizieren auch Trends, die wir in unserem Geschäftsmodell aufgreifen. Der neue Ansatz und das Experimentieren bedeuten auch, bewusst bestimmte Risiken einzugehen. Risikoaversion hemmt Innovation. Viele IterationenInnovative Ideen sind selten das Werk einzelner Genies, und sie entstehen nicht durch einen Heureka-Moment. Innovation ist meistens das Ergebnis von vielen Iterationen, an denen unterschiedliche Personen mitwirken und ihren Teil zur Lösung beitragen. Versicherungsinnovation ist weder ein Widerspruch in sich noch ein reines Schlagwort. Die Unternehmen, die nach langfristigem Erfolg streben, haben das erkannt und bauen auf den unerlässlichen Kulturwandel.—-Pina Albo, Mitglied des Vorstands Munich Re