Vertriebsskandal erschüttert japanische Post

Viele Schadensfälle durch aggressiven Verkauf von Lebensversicherungen - Privatisierung gerät ins Stocken

Vertriebsskandal erschüttert japanische Post

Von Martin Fritz, TokioBei über 30 Grad Hitze und hoher Luftfeuchtigkeit kommen die Mitarbeiter von Japans Post derzeit noch aus einem anderen Grund ins Schwitzen: Tausende Kunden fordern in den Filialen Aufklärung darüber, ob sie in den vergangenen fünf Jahren beim Abschluss einer Lebensversicherung übers Ohr gehauen wurden. Zugleich schwärmen Hunderte von Postlern aus und suchen eventuell betrogene Kunden zuhause auf. Zuvor hatte eine interne Untersuchung 183 000 Schadensfälle ans Licht gebracht.Der Skandal erschütterte das Vertrauen der Bürger in eine öffentliche Institution mit tadellosem Ruf so sehr, dass der für September geplante Verkauf der dritten und letzten Tranche des staatlichen Postbesitzes sich bis 2020 verzögern dürfte. Als Folge des Fehlverhaltens fielen die Aktienkurse der Dachgesellschaft Japan Post Holdings, der Versicherungssparte Japan Post Insurance sowie der Japan Post Bank auf Tiefststände.Mit Einlagen von umgerechnet knapp 1,6 Bill. Euro zählt Japans Post Bank zu den Finanzriesen der Welt. Vor allem abseits der Großstädte sind die landesweit fast 25 000 Postfilialen mit Schaltern für Bank- und Versicherungsdienste die letzte verbliebene Anlaufstelle in Geldsachen. Die Post Bank zählt 120 Millionen Konten; Postkunden schlossen 20 Millionen Verträge für Lebens- und Ausbildungsversicherungen. Tiefe VerbeugungDoch Ende Juli traten drei der höchsten Post-Manager gemeinsam vor die Presse und baten mit einer tiefen rituellen Verbeugung um Entschuldigung. “Wir haben das Vertrauen unserer Kunden übel betrogen, es zerbricht mir das Herz”, gestand Masatsugu Nagato, Präsident der Dachgesellschaft. Der Post-Chef versprach eine interne Untersuchung und eine Entschädigung der Kunden. Bis Ende August verzichtet die Post auf den aktiven Vertrieb von Versicherungen und Wertpapierfonds.Konkret geht es um den Vertragswechsel von Lebensversicherungen, die Vertriebsmitarbeiter bestimmten Kunden empfahlen. In 70 000 Fällen lief der alte Vertrag noch bis zu sechs Monate weiter. Dadurch kassierte die Post-Versicherung die Prämien doppelt. Gleichzeitig konnte der Mitarbeiter den Folgevertrag als Neuabschluss verbuchen und dafür einen Bonus erhalten. 19 000 Kunden, die einem Wechsel zustimmten, verloren dadurch ihren Versicherungsschutz. Zwischenzeitliche Erkrankungen verhinderten den Abschluss eines neuen Vertrages. Bei weiteren 25 000 Kunden verschlechterten sich die Bedingungen der Versicherung, etwa durch eine niedrigere Verzinsung. Viele Geschädigte dürften Rentner sein, fast 30 % der Versicherungskunden sind älter als 70 Jahre. Falls Kunden nicht genügend aufgeklärt wurden, wäre dies illegal gewesen. Die Finanzaufsicht FSA leitete eine eigene Untersuchung ein. Überzogene VorgabenAls Ursache für die Praktiken sieht die Postführung die überzogenen Vorgaben für den Vertrieb. “Unsere Umsatzziele passten nicht mehr in die geänderten Zeiten”, räumte Vertriebschef Kunio Yokoyama ein. Gemeint ist: Eine kapitalbildende Lebensversicherung ist im heutigen extremen Niedrigzinsumfeld keine attraktive Wertanlage mehr. Zugleich lassen sich weniger Policen absetzen, wenn die Bevölkerung so rasch altert und schrumpft wie in Japan. Die Entwicklung bringt die Post jedoch in eine Zwickmühle. Die Vertriebsprovisionen aus den Bank- und Versicherungsdiensten bilden eine wichtige Gewinnsäule der Post. Anders als die Geschäftsbanken darf sie keine Kredite vergeben und kaum Finanzprodukte verkaufen. Wegen dieser gesetzlichen Beschränkung gelten die Aktien der drei Post-Gesellschaften als wenig attraktiv. Daher verkauft der japanische Staat seine Anteile seit November 2015 vor allem an Privatanleger und lockt sie mit einer hohen Dividende an.