BANKEN UND FINANZEN

Wenn alle Stricke reißen

Die Pandemie wirft ein Schlaglicht auf kaum versicherbare globale Bedrohungen. Die Assekuranz muss manche Risiken neu denken.

Wenn alle Stricke reißen

Von Antje Kullrich, DüsseldorfAuf den ersten Blick scheint alles weitgehend in Ordnung: Während andere Branchen am Boden liegen, zeigen sich die Versicherer in der Coronakrise stabil. Zwar gehen die pandemiebezogenen Schäden für die Assekuranz global in den höheren zweistelligen Milliardenbereich. Doch das ist für die finanzstarken Player zu verkraften – und Teil des Geschäfts. Das Gros der Schäden trifft ohnehin die gut kapitalisierten internationalen Konzerne und Rückversicherer, nicht den kleinen Gegenseitigkeitsverein auf dem Land. Christian Mumenthaler, Konzernchef der Swiss Re, schätzte im November den Gesamtschaden für die Versicherer weltweit auf insgesamt 50 Mrd. bis 80 Mrd. Dollar. Ein Großereignis, das aber die Unternehmen bei Weitem nicht in die Knie zwingt.Schaden ist aber noch an anderer Stelle entstanden – und der ist langfristiger, schwerer und gleichwohl schwer zu beziffern. Die Pandemie kratzt erheblich am Selbstbild der Branche, die ihren Kunden gerne Rundum-Schutz in allen Lebenslagen verspricht. Die Pandemie hat das Scheinwerferlicht auf die Grenzen der Versicherbarkeit gelenkt.Kurzfristig hat das für die Versicherer in mehreren Ländern zu einem Reputationsproblem geführt: Vor allem Gastwirte und Hoteliers glaubten sich mit ihren Betriebsschließungsversicherungen ausreichend geschützt, doch zahlreiche Versicherer verweigerten im Lockdown Zahlungen. Wenn alle Kunden gleichzeitig einen Schaden haben, kann Versicherung als Schutz Einzelner durch das Kollektiv eben nicht funktionieren. Was ist in der Theorie logisch klingt, war für die schlecht beratenen Wirte existenzbedrohend. Der Ärger um die Policen war und ist groß. Er beschäftigt die Gerichte.Doch das Problem geht viel tiefer: Die Erfahrung mit Corona lässt Investoren neue bohrende Fragen zum Geschäftsmodell und dem Umgang mit weltweiten Kumulrisiken stellen. Denn zu den altbekannten als schwer oder nicht versicherbar geltenden Risiken wie denen politischer Natur, Krieg und Terrorismus haben sich neue gesellt: Pandemien, Cyberattacken und Klimakrise. Nächstes Virus virtuell?Die neuen Bedrohungen und deren potenzielle Ausmaße rücken immer stärker in den Blickpunkt. So warnte kürzlich Swiss-Re-Chef Mumenthaler vor Cyberrisiken, die einer Pandemie gleichkommen könnten. Er ist nicht der Erste. Mumenthaler hält einen weit verbreiteten Ausfall infolge eines Virus oder den Zusammenbruch einer Cloud für “grenzwertig” versicherbar. “Gewisse Schäden können übernommen werden, aber es wird für den wirtschaftlichen Schaden nie ausreichen”, sagte er. “Es würde sich lohnen, im Voraus über eine Lösung für die Staaten nachzudenken.” Die Risiken, die gleichzeitig die ganze Welt betreffen, hätten zugenommen, konstatierte er und fügte hinzu, dass die Versicherungsbranche nicht allein damit umgehen könne. Der Ruf nach dem StaatDie Rufe nach dem Staat werden allenthalben lauter. Für Pandemiedeckungen zeichnen sich in mehreren Ländern erste Lösungsansätze ab: Die deutschen Versicherer haben bereits im Frühsommer die Idee einer öffentlich-privaten Pandemiedeckung vorgestellt. Zwei Modelle hat der Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft in die Diskussion eingebracht. Beide sehen die Beteiligung von Erstversicherern, Rückversicherern, Kapitalmarkt und öffentlicher Hand in einem Schichtenkonzept vor. Doch bis eine staatlich-private Kooperation steht, dürfte es noch eine Weile dauern. Die Bekämpfung der aktuellen Pandemie hat Priorität. Die Branche führt nach eigenen Angaben zahlreiche Gespräche mit der Politik, doch weiter als bis zu einer Ausschreibung des Finanzministeriums für ein Forschungsprojekt zu diesem Thema ist der Plan noch nicht gediehen.Der Munich Re als einem der großen weltweiten Risikomanager wäre ein paneuropäischer Pandemiepool wohl noch lieber, doch das sei angesichts hoher politischer Hürden wohl zu ambitioniert, stellte Stefan Golling, Chef-Underwriter des weltgrößten Rückversicherers, im Herbst leicht resigniert fest. So bleiben nationale Lösungen als Ansatz. Dimension der KlimarisikenVon noch größerer Dimension sind jedoch drohende Schäden durch die Erderwärmung. “Das größte und zunehmend systemische Risiko ist der Klimawandel”, sagt Munich-Re-Vorstand Torsten Jeworrek. Noch sieht der Rückversicherer die Auswirkungen als versicherbar an, doch ungebremst könnte der Klimawandel künftig zu einer systemischen Bedrohung werden – und nicht mehr zu versichern sein.David McNeil, Experte für Sustainable Finance bei Fitch, sieht das genauso: “Versicherung und Risikotransfer in Bezug auf extreme Wetter- und Naturkatastrophen sind auf den Schutz gegen individuelle Ereignisse ausgerichtet. Im Gegensatz dazu sind die physischen Auswirkungen des Klimawandels chronisch, langfristig und kumulativer Natur.” Und er befürchtet: “Es gibt immer mehr Hinweise darauf, dass diese Auswirkungen möglicherweise nicht vollständig in bestehende Risikorahmen eingepreist sind.”Die Warnung, dass die Versicherungswirtschaft in Teilen die Schäden durch den Klimawandel in ihrer Kalkulation unterschätzen könnte, ist nicht aus der Luft gegriffen. Denn der Fortschritt der Erderwärmung verläuft dramatischer als in vielen Modellen aus den vergangenen Jahren berechnet.Die Munich Re glaubt sich nicht nur mit ihrer umfangreichen und nach eigenen Angaben einmaligen Datenbank zu Naturkatastrophen gewappnet. Die Liste, wie sich der Rückversicherer auf die Folgen des Klimawandels einzustellen versucht, ist lang. Die Maßnahmen ziehen sich durch das ganze Unternehmen und betreffen das operative Geschäft, Lobbying in Richtung Politik und die Kapitalanlageseite gleichermaßen.Doch letztendlich helfe nur eins, meint Vorstandsmitglied Jeworrek: “Die Welt muss energische Maßnahmen zur Reduzierung der Treibhausgasemissionen ergreifen, dass wir nicht wie bei der aktuellen Coronavirus-Pandemie von den Folgen des Klimawandels überrascht werden.”