IM INTERVIEW: KAI WILHELM FRANZMEYER

Wenn Komplexität sich selbst nährt

Ex-Portigon-Chef: Alle deutschen Kreditinstitute zu Kostenanpassungen gezwungen - Geschäftsmodelle müssen neu definiert werden

Wenn Komplexität sich selbst nährt

– Herr Dr. Franzmeyer, Sie waren an der Abwicklung von HRE und WestLB federführend beteiligt. Ist die Marktbereinigung in Deutschland damit abgeschlossen?Die deutschen Banken kommen durch Digitalisierung, neue Wettbewerber und das veränderte regulatorische Marktumfeld gewaltig unter Druck. Gleichzeitig ist die Branche durch historisch gewachsene Geschäftsmodelle geprägt, was nahezu zwangsläufig auch auf historisch gewachsene Organisations- und Geschäftsabwicklungsmodelle hinausläuft. Der Anpassungsbedarf ist in den vergangenen Jahren aus meiner Sicht eher gewachsen als geschrumpft.- Woran machen Sie das fest?Für solide aufgestellte Banken braucht man Eigenkapitalgeber. Diese erwarten aber eine attraktive Rendite. Nach einer Studie der Unternehmensberatung Bain & Co erwirtschafteten die deutschen Banken 2014 im Schnitt eine Verzinsung auf das Eigenkapital nach Steuern von 2,1 %. Die kalkulatorischen Eigenkapitalkosten lagen dagegen bei 7,7 %. Demnach klafft jährlich eine Ergebnislücke von etwa 25 Mrd. Euro. Man mag über Zahlen und Details streiten, doch das ändert nichts am Grundproblem.- Welche Schlussfolgerung ziehen Sie daraus?Um die geforderte Eigenkapitalverzinsung zu verdienen, müssten die Banken bei gleichem Geschäft mehr Geld verdienen. Die Geschäfts- und Ertragsmöglichkeiten sind durch die Regulierung jedoch deutlich eingeschränkt worden. Erschwerend kommt das Zinstief hinzu. Dazu ein Beispiel: Im deutschen System gibt es mehr als 2 000 Mrd. Euro Sicht- und Spareinlagen. Unterstellt, dass die Hälfte dieses Geldes in früheren Jahren zu 4 % verzinslich angelegt wurde, dann fehlen heute strukturell allein 40 Mrd. Euro Zinsergebnis. Diese Lücke wird man allein durch Mehrgeschäft nicht schließen können. Also muss man an der Kostenschraube drehen.- Was heißt das nach vorne geblickt?Die Zukunftsaussichten sind nicht gerade positiv. Das konnte man im Januar und Februar dieses Jahres sehr gut an der Entwicklung der Bankaktien ablesen. Die Kurse fielen fast so schnell wie während der Finanzmarktkrise.- Vor der Finanzkrise haben Banken nur selten das Eigenkapital erhöht. Vielmehr haben sie das Mehrgeschäft aus thesaurierten Gewinnen gespeist.Das ist richtig. Doch bei einer durchschnittlichen Eigenkapitalverzinsung von 2 % ist das kaum noch möglich. Wenn dann aber eine Bank frisches Kapital benötigt, dürfte es sehr schwer werden, Investoren zu gewinnen. Die Schlussfolgerung lautet also: Will man Banken nachhaltig stabil machen, muss die Rentabilität steigen. In einer von wachsender Regulierung und Nullzins geprägten Welt ist das vor allem über die Kostenseite anzugehen.- Ist das ein deutschlandspezifisches Problem?Im Prinzip betrifft es die Branche weltweit. In Deutschland ist das Problem jedoch größer als in anderen Ländern, weil wir viele Institute haben und das Land in seiner Gesamtheit Nettoanleger ist.- Ohne massive Kosteneinsparungen, so Ihr Resümee, haben die deutschen Banken also keine Zukunftsperspektive.Zumindest muss der Schwerpunkt der Veränderungen auf der Kostenseite liegen. Wenn man der Analyse zustimmt, dass das gesamte Ertragsvolumen kleiner geworden ist, muss die Kostenseite entsprechend angepasst werden.- Liegt die Lösung in der Konsolidierung?Das will ich so nicht sagen. Es geht darum, dass die Banken ihr Geschäftsmodell, also die Art und Weise, wie Bankgeschäft akquiriert und abgewickelt wird, verändern müssen. Bei der Neuausrichtung muss mit Blick auf Produkte, Personalbestand, Prozesse und IT-Landschaft hinterfragt werden, welche Geschäfte künftig noch wirtschaftlich sind. Die entscheidende Frage ist: Welches Ertragspotenzial gibt es, und welche Kostenbasis darf ich mir erlauben, um nachhaltig stabil zu sein? Der Zuschnitt der Plattform muss auf das Zukunftsgeschäft ausgerichtet werden. Das ist für viele Banken eine Herausforderung, sind die IT-Systeme der Institute doch oft 30 bis 40 Jahre alt. Alles, was nicht gebraucht wird, muss ganz konsequent abgestellt werden.- Ist das der Abschied von der Universalbank?Nicht notwendigerweise. Universalbank ist ein weiter Begriff, der eigentlich nur besagt, dass Banken sowohl Wertpapiergeschäft als auch kommerzielles Einlagen- und Kreditgeschäft betreiben. Das können Banken auch künftig machen. Allerdings sollte eine Bank nur dann ein Geschäft betreiben, wenn das Geschäftspotenzial die Kosten auch deckt. Die Antwort auf die Frage wird von Bank zu Bank unterschiedlich ausfallen. Manche Banken werden nur Mittelstandsgeschäft betreiben, andere Banken nur Privatkundengeschäft. Es gibt heute schon Banken, die sich auf diese Geschäfte fokussiert haben.- Das ist das genaue Gegenteil einer Universalbank.Wenn man Universalbank so definiert, dass die Bank alles macht, was das Kreditwesengesetz erlaubt, dann haben Sie recht. Diese Zeiten sind vorbei. Es ist aber auch denkbar, dass eine Bank beispielsweise Privatkundengeschäft und Kapitalmarktgeschäft kombiniert, nur muss ganz genau definiert sein, welches Geschäft mit welchen Kunden in welchen Regionen durchgeführt werden soll.- Ist das realistisch? Angenommen ein langjähriger Firmenkunde verlangt nach einem Produkt, das die Bank nicht mehr anbietet. Wird die Bank den Kunden dann an einen Wettbewerber verweisen?Außerhalb der Kreditwirtschaft ist das ja auch der Fall. Ob Autohersteller, Versicherungsunternehmen oder Einzelhändler, diese Unternehmen vertreiben nicht die gesamte Produktpalette. Sie schicken ihre Kunden zur Konkurrenz, oder der Kunde macht sich selbst schlau. In der Kreditwirtschaft müssen wir erst noch an diesen Punkt kommen. Das ist alternativlos.- Was also raten Sie den Banken?Man muss an die Grundstrukturen ran und nicht nur an den Symptomen arbeiten. Das Geschäftsmodell muss hinterfragt werden. Die Neudefinition des Geschäftsmodells ausgerichtet an der Kostenseite kostet Ressourcen, Kraft und Geld. Je später mit dem Prozess begonnen wird, desto schwieriger wird es, diesen erfolgreich abzuschließen. Es gibt in Deutschland Banken, die zu spät damit angefangen haben und mittlerweile vom Markt verschwunden sind.- Gibt es aus Ihrer Sicht in Deutschland Banken, die ein in die Zukunft tragendes Geschäftsmodell schon gefunden haben?Ich möchte keine einzelnen Banken kommentieren. Aber aus dem, was wir bislang an großen Abwicklungsfällen im Sektor gesehen haben, können Lehren gezogen werden. Nehmen wir die Hypo Real Estate (HRE). Dort ist eine völlig überladene Gruppe mit drei inländischen Kreditinstituten in einem radikalen Prozess auf eine neue Plattform gestellt worden, um eine privatisierungsfähige Einheit zu schaffen, die auch erfolgreich an die Börse gebracht wurde. Im Zuge dieses Prozesses wurde die Kostenbasis dramatisch reduziert. Alle anderen Institute der Gruppe wurden abgewickelt oder befinden sich gerade in Abwicklung.- Wie sieht das Beispiel WestLB aus?Auch die WestLB hatte ein massives Kostenproblem. Die Bank musste 2012 ihr Geschäft abgeben – an die Helaba und die Erste Abwicklungsanstalt. Die banküblichen Erträge waren weg, aber die Kosten der Gesamtbank waren noch vorhanden. In den ersten Monaten hat Portigon (die Rechtsnachfolgerin der WestLB, Anm. d. Red.) monatlich einen Nettoverlust von 50 Mill. Euro aus dem laufenden Bankbetrieb eingefahren. Das war ein unhaltbarer Zustand. Entsprechend groß war der Druck, schnell zu restrukturieren. Das ist gut gelungen, denn die Kosten wurden doppelt so schnell reduziert, wie die Bilanz abgebaut wurde.- Auf welchen Zeitraum bezieht sich diese Aussage?Die WestLB hatte Ende 2011 eine Bilanzsumme von 170 Mrd. Euro und fast 4 200 Mitarbeiter. Ende 2015 standen bei den Nachfolgeinstituten noch rund 85 Mrd. Euro in den Büchern bei rund 1 150 Mitarbeitern.- Was folgern Sie daraus für Banken, die ihr Geschäftsmodell neu definieren?Im Kern geht es immer um die Anpassung der Kosten an ein realistisches Ertragsniveau.- Wenn man Ihrer Analyse folgt, steht der deutschen Kreditwirtschaft ein massiver Arbeitsplatzabbau bevor.Um Kosten zu sparen, müssen die deutschen Banken im ersten Schritt an den großen beiden Kostenblöcken Personal und IT ansetzen. Um das tun zu können, muss die Komplexität reduziert werden. Bei Portigon beispielsweise haben wir gefragt, mit wie vielen Banken wir tatsächlich Geschäfte machen müssen, um unsere Bilanz zu steuern. Das Ergebnis war beeindruckend: Von 800 Kontrahenten waren 750 überflüssig. Das heißt, wir haben 750 Kontrahenten gestrichen. Das war eine erhebliche Entlastung, weil die Detailarbeit für 750 Kreditinstitute entfiel.- Haben Sie noch andere Beispiele?Wir haben etwa 50 % der zentralen Kosten – also zentrale Stäbe, zentrale Geschäftsabwicklung, zentrale Geschäftsbereiche und natürlich zentrale IT – eingespart. Dabei haben wir gelernt, dass wir IT-Kosten nur einsparen können, wenn die Fachabteilungen an dieser Stelle eng mit der IT zusammenarbeiten. Oftmals können diese Einsparpotenziale nicht gehoben werden, weil es keine zielgerichtete Abstimmung gibt. Erstaunt hat uns, dass wir in der IT 15 bis 20 % der laufenden Kosten ohne nennenswerte Leistungseinbußen einsparen konnten, zum Beispiel weil wir Redundanzen und Verfügbarkeitszeitfenster deutlich heruntergefahren haben.- Das spricht dafür, dass zu lange auf großem Fuß gelebt wurde.Ein Kernproblem ist, dass Komplexität sich selbst nährt. Nachdem wir die ersten Maßnahmen durchgeführt hatten, war viel einfacher zu erkennen, was die nächsten Schritte sein müssen, und es war auch einfacher, diese umzusetzen. Das ist wie in einem Kinderzimmer. Zunächst herrscht großes Durcheinander. Wenn aber erst einmal alle Kleidungsstücke aufgeräumt sind, wird es schon übersichtlicher. Je größer eine Bank ist und je mehr unterschiedliche Geschäfte sie macht, desto größer sind die Kosten. Denn diese steigen exponentiell mit der Komplexität.- Das spricht am Ende aber wieder für die Spezialisierung.Ja, im Sinne der Fokussierung. Die Banken müssen sich auf die Geschäfte konzentrieren, in denen sie einen komparativen Vorteil haben. Aufgrund ihrer hohen Refinanzierungsfähigkeit in der Vergangenheit haben viele Banken in Deutschland aber bei allem mitgemacht.- Das trifft aber doch insbesondere auf die Landesbanken zu, die lange Zeit einen Finanzierungsvorteil hatten und sich mit Blick auf das Auslaufen dieses Vorteils noch einmal zusätzliche Milliarden auf die Bücher legten.Ja, das ist richtig.- Heißt das in der Konsequenz, dass der Restrukturierungsbedarf bei den Landesbanken am größten ist?Nicht unbedingt. Praktisch alle Banken in Deutschland sind gezwungen, ihr Geschäftsspektrum und ihre Kosten anzupassen. Am Ende des Tages braucht eine Volkswirtschaft Institute, die Einlagen entgegennehmen und diese als Kredite herausreichen.- Das ist bekanntermaßen das Geschäftsmodell der Sparkassen sowie der Volks- und Raiffeisenbanken.Das muss ja nicht schlecht sein. Das ist die volkswirtschaftliche Daseinsberechtigung von Banken. Wo lag denn der volkswirtschaftliche Mehrwert einer Depfa oder HRE? Wer hat davon profitiert, dass diese Banken in großem Umfang Immobilien in den USA und Australien finanziert haben? Wo ist der Nutzen, dass diese Banken öffentliche Haushalte im Ausland im Volumen von über 200 Mrd. Euro finanziert haben? Diese Aufgaben muss die deutsche Kreditwirtschaft für die Funktionsfähigkeit der deutschen Volkswirtschaft nicht erledigen. Für die Volkswirtschaft ist wichtig, dass die Wirtschaft mit Krediten versorgt wird und die Privatkunden ein Konto haben. Vielleicht brauchen die großen deutschen Unternehmen noch ein heimisches Institut, mit dem sie große Kapitalmarkttransaktionen abwickeln können, wenn sie das nicht mit einer ausländischen Adresse machen wollen.- Diese Unternehmen brauchen aber eine große Bank, die Investment Banking beherrscht und auch über eine große Bilanz verfügt, also das Gegenteil einer rigorosen Konzentration.Auch im Investment Banking muss ein Institut nicht alle Produkte anbieten. Diese Frage kann man ergebnisoffen diskutieren.- Wie lautet Ihre Antwort?Es gibt eine Reihe erfolgreicher Volkswirtschaften, die auch ohne große heimische Investmentbank auskommen.- Haben diese Länder auch große international tätige Industrieunternehmen?Nehmen wir beispielsweise Frankreich. BNP Paribas kann und will sich vermutlich nicht an Goldman Sachs ausrichten. Die Bedeutung der Banken für eine Volkswirtschaft liegt eher im Funktionieren des Geldkreislaufs als im Bedienen einzelner Großkonzerne, die ohnehin unter einer Vielzahl von Anbietern auswählen können.- Die Frage ist doch, inwieweit deutsche Unternehmen eine große deutsche Bank benötigen, die sie auch ins Ausland begleitet.Ich würde es anders formulieren: Wenn es einer großen deutschen Bank gelingt, die Produkte, die sie an multinationale Unternehmen verkauft, auf eine Weise zu produzieren, dass sie damit die Eigenkapitalkosten verdient, dann ist es gut. Wird das nicht geschafft, gibt es für dieses Geschäftsmodell in einer Marktwirtschaft keinen Platz.- Ist dann nicht die Frage, ob Bankdienstleistungen anders bepreist werden müssen? Die Privatkunden lernen gerade, dass Bankdienstleistungen nicht gratis sind. Bei Firmenkunden scheint mir dieser Punkt noch weit entfernt.Was ist die Konsequenz, wenn der Preisdruck zu hoch ist? Entweder müssen alle preisgünstiger produzieren, oder es müssen einige aus dem Markt ausscheiden. Im Resultat wird wahrscheinlich beides passieren.- Wie viele Banken werden nach Ihrer Einschätzung nicht überleben?Das kann ich nicht sagen.- Wie groß muss der Arbeitsplatzabbau auf das Gesamtaggregat bezogen sein?Der wird erheblich sein, eine konkrete Zahl kann ich nicht nennen. Aber wenn man beispielsweise davon ausgeht, dass die Kosten im Gesamtaggregat um 10 % gekürzt werden müssen – und in dieser Größenordnung dürften wir uns schnell bewegen -, ist ein Personalabbau programmiert. Erlauben Sie mir noch eine Anmerkung zum Thema Personal. Ich habe vielfach gehört, dass man mit der deutschen Mitbestimmung keine großen Restrukturierungen realisieren kann. Diese Einschätzung teile ich nicht. Sowohl bei der HRE als auch bei der WestLB ist es gelungen, mit den Arbeitnehmervertretern in den Aufsichtsräten und in den Betriebsstätten ein gemeinsames Zielbild zu entwickeln und zu Vereinbarungen zu kommen.- Ist das Ergebnis besser als ohne Mitbestimmung?Ja, weil man mit den Betriebsräten und Gewerkschaften einen Ansprechpartner hat, der die vielfältigen individuellen Interessen der Arbeitnehmer bündelt.—-Das Interview führte Annette Becker.