Wir brauchen einen Neustart der Energiewende

Konsequenter Wiedereinstieg in die Windkraft gehört zwingend dazu - Kluges Klimaengagement wird sich um einen Ausgleich von Interessen bemühen

Wir brauchen einen Neustart der Energiewende

Klimaschutz war fraglos das Top-Thema des vergangenen Jahres, und die Debatten führten zu einem klaren politischen und gesellschaftlichen Konsens: Den CO2-Ausstoß rasch und deutlich zu senken, lautet der kleinste gemeinsame Nenner, und so hat es die Bundesregierung im Pariser Abkommen auch zugesichert. “Hohes Verbalengagement bei gleichzeitig weitestgehender Verhaltensstarre” – so aber leider die unbefriedigende klimatologische Bilanz des Jahres 2019. Der Kompromiss zum CO2-Preis kurz vor Weihnachten war da ein echter Lichtblick.Wer nun gedacht hätte, dass es jetzt zu Beginn des Jahres 2020 pragmatisch, ausgewogen und effizient mit einer Strategie vorangeht, sieht sich getäuscht. Bei der praktischen Umsetzung des Klimakompromisses kocht jeder sein eigenes Süppchen. Ja, das Klima soll geschützt werden, nur ändern soll sich ganz konkret möglichst wenig. Eigeninteressen dominieren, und kaum kommt es zum Schwur, sinkt die Akzeptanz: Warum wir? Warum jetzt? Warum nicht erst die anderen?Politik, Wirtschaft und Gesellschaft müssen endlich Farbe bekennen und mutige Schritte gehen. In zehn Jahren sollen 65 % unseres Stroms aus erneuerbaren Energien stammen. Das ist die Grundlage für ein Gelingen aller Klimaschutzprogramme. Wie aber erreichen wir das 65-%-Ziel?Dringend notwendig ist ein konkreter Plan, der Arbeit und Umwelt, Ökonomie und Ökologie zusammen denkt. Anders wird es nicht gehen, wenn endlich aus Worten Taten werden sollen.Nehmen wir die drohende Abwicklung der deutschen Windkraftindustrie als ein alarmierendes aktuelles Beispiel. Wie unter einem Brennglas lässt sich sehen, woran der Auf- und Ausbau einer ökologischen Energieversorgung krankt. Nach einer aktuellen Forsa-Umfrage halten 82 % der Bevölkerung den Windkraftausbau für wichtig oder sehr wichtig. Gleichzeitig ist der Ausbau an Land praktisch zum Erliegen gekommen. Nur 86 neue Anlagen wurden im vergangenen Jahr bundesweit errichtet. Seit 2016 sind in der gesamten Branche bereits über 40 000 Arbeitsplätze verloren gegangen, weit mehr, als im Braunkohletagebau überhaupt arbeiten.Die Gründe für den Niedergang der Windindustrie sind zahlreich. Die Realisierung neuer Projekte gleicht einem Malefiz-Spiel – kaum hat man eine Barriere aus dem Weg geräumt, taucht die nächste auf. Zu wenige Flächen werden ausgeschrieben. Lärmschutz, Artenschutz, Naturschutz und viele andere Belange wiegen im Ergebnis leider allzu oft mehr als Klimaschutz. Abbau der Hürden nötigKäme jetzt auch noch ein Mindestabstand von 1 000 Metern zwischen Windrad und kleinsten Wohneinheiten, wäre das der Sargnagel für die deutsche Windenergiebranche. Nur nebenbei: Solche Abstandsregelungen gibt es für chemische Fabriken oder andere Industrieanlagen auch nicht. Und wenn einzelne Länder sie wirklich für richtig halten, können sie ohne weiteres tätig werden. So kann Klimaschutz nicht gelingen. Statt immer neuer Hürden brauchen wir vielmehr einen Abbau der bisherigen.Ein großer Hemmschuh bei den Erneuerbaren: Genehmigungsverfahren für Windenergieanlagen dauern zu lange, viel zu lange! Bis über neue Anlagen entschieden wird, vergehen meist Jahre. Das ist alles andere als wirtschaftlich lukrativ. Längst hat sich unter Anlegern und Unternehmern die fatale Stimmung breitgemacht, dass die Flaute bei der Windenergie zum Dauerzustand wird. Das ist eine besorgniserregende Entwicklung für eine Branche mit Expansionspotenzial.Peter Altmaier muss dringend gegensteuern und der emissionsfreien Ökobranche sehr rasch eine Perspektive geben. Bis zur Jahresmitte muss ein konkreter Plan vorgelegt werden, wie genau Deutschland es schaffen kann, in zehn Jahren 65 % des Stromverbrauchs aus erneuerbaren Energien zu gewinnen. Ohne eine starke Windkraftindustrie an Land und auf der See ist dieses Ziel nicht zu erreichen. Dies gilt umso mehr, als der Strombedarf weiter steigen wird und Kohle und Atomkraft dann endgültig der Vergangenheit angehören. Wir brauchen also einen Neustart der Energiewende. Der konsequente Wiedereinstieg in die Windkraft gehört zwingend dazu. In Niedersachsen sind wir auf einem guten Weg, gemeinsam mit allen beteiligten Gruppen – den Kommunen, den Betreibern, der Industrie, den Interessenverbänden – alles zu tun, was auf Landesebene getan werden kann, um die Windkraft zu retten.Es geht um die Bereitstellung von Flächen und um die Optimierung von Genehmigungsverfahren, aber auch um Anreizsysteme für betroffene Bürger und Kommunen. Nun muss auch die Bundesregierung ihre Hausaufgaben erledigen: nicht nur Ausstiegs-, sondern auch energiepolitische Einstiegsgesetze beschließen. Sehr schnell reagierenDie Windenergie muss sehr schnell weiter ausgebaut werden. Es ist nicht schwer auszurechnen, wie hoch der Stromverbrauch in zehn Jahren voraussichtlich sein wird, und zurückzurechnen, wie viel Zubau wir bei den erneuerbaren Energien haben müssen, um das 65-%-Ziel zu erreichen. Jahr für Jahr müssen dann die entsprechenden Ausschreibungsmengen verlässlich vorgesehen werden. Gleichzeitig muss die Produktion von Wasserstoff befördert werden. Für einige Industriezweige ist das die einzige Chance, die CO2-Vorgaben zu realisieren. Passiert nichts, werden die Klimaziele verfehlt. Wie sollten wir das den Menschen hier bei uns im Norden erklären? Alle klimapolitischen Sonntagsreden aus Berlin entlarven sich selbst. Glaubwürdige Politik sieht anders aus. Das Signal wiegt schwererNatürlich haben auch einzelne Windkraftunternehmen in der Vergangenheit Fehler gemacht. Aber das Signal, das von der Entwertung und der drohenden Abwicklung der Windkraft ausgeht, wiegt schwerer – ökonomisch, politisch und gesellschaftlich. Abqualifiziert wird die Arbeit der vielen Elektroingenieure und Energietechnikerinnen, der Vermessungstechnikerinnen und Anlagenbauer, die in der Branche tätig sind. Einige erhalten bald ihre Entlassungspapiere. Es erwischt ausgerechnet diejenigen Berufsgruppen, die mit ihrem Wissen und Können den klima- und energiepolitischen Umbau vordenken und fachlich ausführen. Warum ist die Flexibilisierung des Kurzarbeitergeldes nicht längst beschlossene Sache? Ein solcher Schritt würde viele Sorgen reduzieren.Das Beispiel der Windkraft führt uns auf dramatische Weise vor Augen, was derzeit fehlt: Haltung und Wille. Lassen wir die Branche tatsächlich so wie einst die Solarenergie vor die Hunde gehen, oder haben wir etwas gelernt? Der Umgang mit der Windkraft in Deutschland wird zum Lackmustest dafür, ob Politik und Gesellschaft es wirklich ernst meinen mit dem sozialökologischen Wandel. Es ist kein Hexenwerk, den Knoten zu lösen, notwendig sind Entschlossenheit und Konsequenz. Um Arbeit, Umwelt und Gesellschaft in Einklang zu bringen, müssen sich alle Beteiligten bewegen und einen Pakt des Gelingens schmieden, auf den auch im Streit Verlass ist. Zu Änderungen bereit seinNatürlich gibt es ungeeignete Standorte für Windräder, aber nicht jeder Standort ist der falsche. Natürlich darf nicht über die Köpfe der Menschen vor Ort hinweg entschieden werden, aber es muss Entscheidungen in überschaubarer Zeit und konstruktive Kompromisse geben. Wenn wir den Klimaschutz wollen, müssen wir zu Änderungen bereit sein. Ein kluges Klimaengagement wird sich dabei stets auch um einen Ausgleich von Interessen bemühen.Warum sollen Anlieger von Windparks nicht vergünstigten Strom erhalten? Warum hilft man betroffenen Kommunen nicht bei der Beseitigung ihrer ansonsten dringendsten Probleme – sei es durch Lärmschutzmaßnahmen, Schulsanierungen oder ein Gemeinschaftshaus? Wer jeden Monat konkret profitiert von den in der Nähe stehenden Windrädern, wird nicht mehr unbedingt zum Protest schreiten. Auch so geht Akzeptanz durch Teilhabe.Betrachten wir Klimaschutz als einen Prozess. Die Richtung steht eigentlich fest, Intensität und Geschwindigkeit müssten deutlich erhöht werden, ganz ohne Streit wird es nicht gehen. Gesellschaftliche Interessen zu formulieren und für sie auch robust einzustehen, ist und bleibt Kern unserer Demokratie. Dies gilt gerade in bedeutenden Fragen wie Klimaschutz. Egoismus und Dogmatismus aber erschweren die Lösungsfindung und schaden dem großen Ganzen. Nicht Aussitzen oder Rechthaberei, sondern Vernunft und Augenmaß führen zum Ziel. Und vor allem: mehr Mut und mehr Zuversicht! Stephan Weil, Ministerpräsident des Landes Niedersachsen