LEITARTIKEL

Wirecard am Abgrund

Keine Worte des Bedauerns, keine Erwähnung der Leistungen, keine guten Wünsche für die Zukunft: Der Rücktritt des Vorstandschefs Markus Braun sei "im Einvernehmen" erfolgt, berichtete der Aufsichtsrat des von einem Bilanzskandal durchgerüttelten...

Wirecard am Abgrund

Keine Worte des Bedauerns, keine Erwähnung der Leistungen, keine guten Wünsche für die Zukunft: Der Rücktritt des Vorstandschefs Markus Braun sei “im Einvernehmen” erfolgt, berichtete der Aufsichtsrat des von einem Bilanzskandal durchgerüttelten Zahlungsabwicklers Wirecard. Diese trockene Formulierung lässt darauf schließen, dass der Österreicher mit seinem Schritt einem drohenden Rauswurf zuvorgekommen ist.Denn der als Aufräumer angetretene Aufsichtsratsvorsitzende Thomas Eichelmann hätte allen Grund dazu gehabt, ihn fristlos zu feuern. Der Dax-Konzern hat nicht nur einen gewaltigen Reputationsschaden, sondern die tiefe Vertrauenskrise am Kapitalmarkt und der aufgedeckte umfangreiche Bilanzbetrug nehmen eine Dimension an, die für das Unternehmen existenzbedrohlich ist. 21 Jahre nach ihrer Gründung steht die Wirecard AG am Abgrund. Das berufliche Lebenswerk des Visionärs Braun ist zu einem Kriminalfall in der deutschen Wirtschaftsgeschichte geworden, der seinesgleichen sucht. Vieles deutet darauf hin, dass Braun und sein Team auf einen Betrüger hereingefallen sind, der von den Philippinen ausgehend das Unternehmen mit schmutzigen Tricks um 1,9 Mrd. Euro erleichtert hat. Damit sind 70 % der zuletzt vom Abschlussprüfer Ernst & Young (EY) bestätigten Zahlungsmittel (Stand 2018) sprichwörtlich über Nacht verloren gegangen.Dass Braun für dieses Desaster die Verantwortung trägt, liegt auf der Hand. Dass es zu diesen gravierenden Bilanzierungsmissständen gekommen ist, lässt berechtigte Zweifel am Controlling und am Rechnungswesen des Unternehmens sowie an der Arbeit der Wirtschaftsprüfer aufkommen. Der Stuhl von Finanzvorstand Alexander von Knoop wackelt gewaltig.Dass der als Brauns Nachfolger angetretene Übergangskonzernchef James Freis mit ihm überhaupt zusammenarbeitet, ist der Tatsache geschuldet, dass er den CFO in der Anfangsphase des nun versuchten Neustarts schlichtweg mit dessen Insiderwissen braucht. Ansonsten hätte Eichelmann, der den Juristen aus den USA ursprünglich als Compliance-Chef im Vorstand installieren wollte, sich längst von von Knoop getrennt. Sollte es Freis trotz vieler Widrigkeiten gelingen, Wirecard ins Lot zu bringen, hätte der CFO seine Schuldigkeit getan. Nach Braun und dem fürs operative Geschäft zuständigen Vorstand Jan Marsalek ist er voraussichtlich der dritte Vorstand, der den Finanzdienstleister verlassen muss.Das große Loch in der Bilanz übersah offenbar sogar der von Eichelmann zuvor als Sonderprüfer mandatierte EY-Wettbewerber KPMG. Der Gesellschaft kann man aber angesichts des dramatischen Ausmaßes des Falls zugute halten, mit ihrer Arbeit EY sensibilisiert zu haben für die verheerenden Schwächen bei Wirecard. Ansonsten wären vermutlich die besagten 1,9 Mrd. Euro einfach so mal in der Bilanz 2019 “durchgerutscht”. Doch das Testat von EY blieb berechtigterweise aus. Insofern hat der Abschlussprüfer noch die Kurve bekommen.Die aufgedeckten Mängel zeigen, dass die über Wirecard zuvor kritisch berichtende “Financial Times” zunächst die Spitze des Eisbergs offenlegte. Ohne die Initiative der britischen Wirtschaftszeitung hätte das im September 2018 sogar in den Dax aufgestiegene Unternehmen vermutlich bilanziell so weiterwursteln können. So gleicht die jüngste Ad-hoc-Meldung von Wirecard einem Offenbarungseid. Denn nicht nur das Zahlenwerk des vergangenen Jahres erweist sich als gigantische Luftbuchung, sondern auch die von EY mit einem einwandfreien Bestätigungsvermerk versehenen Abschlüsse für die Jahre zuvor, wie der Konzern jetzt einräumen musste.Das ist keine Petitesse, betrifft es doch ein Viertel der Bilanzsumme. Das Schicksal von Wirecard liegt nicht mehr in der Hand der Verwaltung, sondern hängt nunmehr davon ab, wie die Gläubigerbanken gedenken, mit der Causa umzugehen. Das Unternehmen steht bei ihnen mit rund 2 Mrd. Euro in der Kreide. Aufgrund des nicht vorgelegten Jahresabschlusses ist diese Summe nunmehr zur Rückzahlung sofort fällig, da Wirecard Kreditauflagen bricht. Der Konzern kann das Geld nicht aufbringen angesichts der Tatsache, dass er nur noch über eine Liquidität von geschätzten rund 1 Mrd. Euro verfügt. Das, was für Leerverkäufer – zumeist Hedgefonds – derzeit ein Freudenfest ist, erweist sich für die Aktionäre als teures Fehlinvestment. Ihnen droht ein Totalverlust, sollte Wirecard die Grätsche machen. ——Von Stefan KroneckDie tiefe Vertrauenskrise und der umfangreiche Bilanzskandal bedrohen die Existenz des weiß-blauen Zahlungsabwicklers Wirecard. ——