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Wirecard: Enron-Moment für Europas Finanzaufsicht

Börsen-Zeitung, 27.6.2020 Darf ein Dax-Unternehmen nicht pleitegehen? Wer die Aufregung um Absturz und Insolvenz von Wirecard betrachtet, muss den Eindruck gewinnen, dass die einer Marktwirtschaft systemimmanente Marktbereinigung durch Pleiten und...

Wirecard: Enron-Moment für Europas Finanzaufsicht

Darf ein Dax-Unternehmen nicht pleitegehen? Wer die Aufregung um Absturz und Insolvenz von Wirecard betrachtet, muss den Eindruck gewinnen, dass die einer Marktwirtschaft systemimmanente Marktbereinigung durch Pleiten und der mögliche Neustart nach einer Insolvenz zwar für viele kleine und mittlere Unternehmen zur Normalität gehört, bei einem bis in den Dax hochgejubelten Unternehmen aber einer nationalen Katastrophe gleichkommt. Fakt ist: In der Unternehmenslandschaft wird man Wirecard nicht vermissen. Die überwiegend gut qualifizierten IT-Mitarbeiter werden neue Jobs finden, die Kunden werden auf Wettbewerber umsteigen, und für den Standort Deutschland ist es egal, über welche Plattformen die Kreditkartenkäufe bei Aldi oder die Einsätze bei asiatischen Online-Wettbüros abgewickelt werden. Vielfaches VersagenZunächst einmal: Die Mitgliedschaft im Dax 30 ist kein Qualitätskriterium. Sie sagt weder etwas aus über die Qualität der Produkte des Unternehmens noch über die Qualität des Managements und dessen Unternehmensführung. Es sind kapitalmarkttechnische Kriterien wie Marktkapitalisierung und Free Float, die über die Mitgliedschaft im Dax entscheiden. Selbst der Verstoß gegen die für Dax-Unternehmen geltenden Spielregeln wie beispielsweise die Publizitätsvorschriften wird nicht mit der Verbannung aus dem Index bestraft. Dass die Deutsche Börse AG als Produktverantwortlicher für den Dax nach der Causa Wirecard aber Handlungsbedarf hat, ist offensichtlich.Wirecard ist nicht gescheitert, weil sie mit ihrer Dienstleistung nicht wettbewerbsfähig war oder die Märkte weggebrochen sind, sondern weil mutmaßlich betrogen und gefälscht wurde und mit der Verifizierung dieser Erkenntnis in Gestalt der fehlenden 1,9 Mrd. Euro das Vertrauen der Geldgeber quasi über Nacht auf null gesunken ist. Der erhärtete Verdacht auf Bilanzmanipulationen und das versagte Testat haben den aufgestauten Vertrauensverlust schlagend werden lassen. Und jene Person, die diesen Vertrauensverlust und dessen Folgen maßgeblich zu verantworten hat, flüchtet sich in die Rolle des Betrogenen: Ex-Vorstandschef Markus Braun.Der Fall Wirecard unterscheidet sich wenig von anderen spektakulären Firmenpleiten in Verbindung mit Bilanzskandalen. Ob Enron und Worldcom in den USA, Parmalat in Italien oder Flowtex in Deutschland: immer war es eine Mischung aus charismatischem bis despotischem Visionär an der Unternehmensspitze, verschachtelten und intransparenten Firmenkonstrukten, gefälschten Geschäfts- und Bilanzzahlen und vor allem fehlender oder nicht funktionierender Kontrolle.Auch bei Wirecard hat die Kontrolle versagt: durch den Aufsichtsrat, durch die Finanzaufsicht BaFin, durch den langjährigen Abschlussprüfer EY, durch die Anteilseigner wie auch die kreditgebenden Banken und teils auch durch die Medien. Wirecard hatte bis Anfang 2020, dem Antritt von Thomas Eichelmann als AR-Vorsitzender, keinen kontrollierenden, sondern einen affirmativen Aufsichtsrat. Dies nicht rechtzeitig geändert zu haben ist das Versäumnis der institutionellen Investoren, namentlich der deutschen Fondsgesellschaften DWS, Deka und Union Investment. Trotz ihrer wiederholten Kritik am unterirdischen Zustand der Corporate Governance bei Wirecard blieben die erwähnten Fondsgesellschaften bis vor kurzem stark investiert. Erst das Sondergutachten von KPMG leitete den Ausstieg dieser institutionellen Anleger ein, während die von missverständlichen Ad-hoc- und beschönigenden Pressemitteilungen eingelullten Privatanleger noch an ihren Visionär Markus Braun glaubten. Diese Anleger zu schützen hätte Aufgabe der BaFin sein müssen.Bei der BaFin liegt mehrfaches Versagen vor. Erstens die falsche Charakterisierung des Zahlungsabwicklers als Technologieunternehmen und nicht als Finanzinstitut – mit der Folge, dass nur die Wirecard Bank, nicht aber der Konzern von der BaFin überwacht wurde. Wie eng beides zusammenhängt, erlebt man nun. Zweitens die Nachsicht bei Verstößen gegen Publizitätsvorschriften. Der immer wieder verschobene Jahresabschluss für 2019 war ja nicht das erste Warnsignal dafür, dass Wirecards Rechnungslegung, Revision, Compliance und vieles mehr in keiner Weise den Anforderungen eines börsennotierten Unternehmens im Prime Standard entsprachen. Die von der BaFin verhängten Bußgelder blieben ohne Lerneffekt – auf beiden Seiten.Nur Kopfschütteln kann die Rolle des Abschlussprüfers EY auslösen, auch in der eigenen Branche. Der Wirtschaftsprüfer, der 2017 das Testat für die Singapurer Tochter verweigerte, es aber für den Konzern für 2017 und 2018 ohne Einschränkungen erteilte, hat auf ganzer Linie versagt. Wie viele Hinweise aus dem Unternehmen und über die Medien muss man als Abschlussprüfer eigentlich noch bekommen, um nicht nur sein Häkchen an die vorgelegten Dokumente zu machen, sondern den Manipulationsvorwürfen auf den Grund zu gehen und auch forensische Methoden einzusetzen? KPMG als Sonderprüfer hat dies dann gemacht. Mit den bekannten Folgen. Erinnerungen an EnronManche Parallele zum Fall Enron aus dem Jahr 2001 ist verblüffend. Damals wurde übrigens Ex-CEO Jeff Skilling zunächst gegen eine Kaution von 5 Mill. Dollar auf freien Fuß gesetzt, später zu 24 Jahren Haft verurteilt. Der Wirtschaftsprüfer Arthur Andersen, damals einer der Big Five, der den Bilanzbetrug gedeckt und Akten vernichtet hatte, musste sein Geschäft weltweit einstellen, die deutsche Andersen-Prüfungsgesellschaft wurde von Ernst & Young (EY) übernommen. Und die Politik verschärfte mit dem Sarbanes-Oxley-Gesetz die Regeln für Corporate Governance. Der Fall Wirecard ruft nun schon Bundesfinanzminister Olaf Scholz in Berlin und EU-Kommissar Valdis Dombrovskis in Brüssel auf den Plan zur Reform der Aufsicht. Wird Wirecard zum Enron-Moment für die europäische Finanzaufsicht? – c.doering@boersen-zeitung.de——Von Claus DöringMan wird Wirecard nicht vermissen. Aber Aufsicht, Wirtschaftsprüfer und institutionelle Investoren müssen Konsequenzen ziehen. ——