Wirecard hatte „keine Zeit mehr“ für die Kunden
sck München
Nach seinen Ausführungen über die Luftbuchungen im Drittpartnergeschäft (TPA) hat am neunten Verhandlungstag im Strafprozess um den Wirecard-Bilanzbetrug am Landgericht München I der Kronzeuge detailliert über gefälschte Lieferverträge des Zahlungsabwicklers bei Software-Diensten berichtet. In seiner Befragung durch den Vorsitzenden Richter Markus Födisch sagte Oliver Bellenhaus aus, dass Software-Verträge mit Abnehmern dazu gedient hätten, „die Ergebnisse von Wirecard zu verbessern. Diese Dienstleistungen hatten keinen realen Hintergrund. Es sollte die Wirtschaftsprüfer täuschen, dass Aktivitäten auf diesem Gebiet stattfanden.“
Der mitangeklagte ehemalige Statthalter des einstigen Dax-Konzerns legte bereits in seinen Vernehmungen durch die Staatsanwaltschaft München ein umfassendes Geständnis ab. Die Strafermittler werfen den insgesamt drei Angeklagten unter anderem „gewerbsmäßigen Bandenbetrug“ vor. Auf der Anklagebank sitzen auch der frühere Vorstandsvorsitzende Markus Braun und der einstige Konzernchefbuchhalter Stephan von Erffa.
Bellenhaus nannte mehrere Beispiele von fingierten Software-Lieferverträgen an Kunden, die derart überteuert gewesen seien, dass diese „in keinem angemessenen Verhältnis zu den angebotenen Leistungen von Wirecard“ gestanden hätten. Dies schaffe „nicht einmal SAP“, merkte der Befragte im Gerichtssaal ironisch an. Wirecard deklarierte Software-Leistungen, die nicht existierten. „Die Verträge wurden zurückdatiert.“ Bellenhaus gab zu, dass er daran beteiligt gewesen sei. Jan Marsalek und von Erffa seien eingeweiht gewesen. Das ehemalige Wirecard-Vorstandsmitglied Marsalek ist kurz nach den aufgeflogenen Bilanzbetrügereien im Frühsommer 2020 geflüchtet. Der mit Haftbefehl Gesuchte soll sich Medienberichten zufolge in Moskau versteckt halten.
Beispiel Causa Singapur
„Fast alle Verträge hat mir Jan Marsalek zum Unterschreiben gegeben“, sagte Bellenhaus zum Thema Software-Verträge. Von Erffa sei darüber informiert gewesen, „dass hinter diesen Verträgen kein wirtschaftlicher Hintergrund steckt“. Denn Wirecard habe weder über diese Software verfügt noch notwendige Eigentümer-Lizenzen besessen. „Die Software-Verkäufe waren anfangs unspektakulär. Spektakulär wurd es dann, wenn die Dokumente für die Wirtschaftsprüfer geliefert werden sollten.“ Bellenhaus bezog sich dabei auf den Abschlussprüfer EY, der die Bilanzen von Wirecard jahrelang durchleuchtete und bis einschließlich 2018 einwandfrei testiert. Erst mit der Sonderprüfung des Zahlenwerks 2019 durch KPMG verweigerte EY das Testat für jenen Jahresabschluss im Frühjahr 2020.
Als Beispiel für die kriminellen Machenschaften nannte er die Vorkommnisse bei der Konzerntochter in Singapur in den Jahren 2017/2018. Seinerzeit verbuchte die asiatische Einheit Software-Dienstleistungen, die gar nicht erbracht worden seien, als Erträge, so Bellenhaus. Er berichtet von einer Summe von rund 12 Mill. Euro. Der Vertragsabwickler, ein Geschäftsmann namens Shang Chi Pang, habe später den Sonderprüfern von KPMG diese Fälschungen gebeichtet. Im Rahmen der Nachprüfungen in Singapur sei bereits zuvor den zuständigen Prüfern vor Ort aufgefallen, dass dieser Vertrag nicht existierte und voll abgeschrieben werden müsste. Um die Situation zu „heilen“, sei er, Bellenhaus, von Marsalek eingesetzt worden. So hatte Bellenhaus nach eigenen Angaben frei erfundene Verträge im Gesamtvolumen von rund 10 Mill. Euro in die Konzernbilanz verbucht, um das „Pang-Desaster“, wie er es bezeichnete, „aufzufangen“. Es sei von ihm eine „Fixer-Dienstleistung“ gewesen.
4,8 Mill. „Sonderzahlung“
Schlussendlich sei dem Kapitalmarkt seinerzeit kommuniziert worden, dass nur 2 Mill. Euro wertberichtigt werden müssten, so Bellenhaus.
„Wenn jemand genauer hingeschaut hätte, wäre das allen früher aufgefallen“, kommentierte Födisch die Aussagen des Kronzeugen. Auf die Frage des Richters, ob Braun diese Software-Verträge gebilligt habe, konnte der Kronzeuge keine näheren Angaben machen. Er, so Bellenhaus, war mit den Fälschungen insgesamt so sehr beschäftigt gewesen, dass „es keine Zeit mehr“ gegeben habe, „sich mehr mit den eigentlichen Kunden zu beschäftigen“.
Auf Födischs Frage nach seinen persönlichen Motiven gab Bellenhaus an, auf diese Weise sein Einkommen deutlich gesteigert zu haben. Er berichtete unter anderem von einer „Sonderzahlung“ im Jahr 2016 in Höhe von 4,7 Mill. Euro. Nach einigem Zögern habe Marsalek dem zugestimmt. Das Geld stammte dem Kronzeugen zufolge von der TPA-Einheit von Wirecard, Al Alam, die Bellenhaus auf Marsaleks Weisung zuvor selbst eingerichtet hatte. Diese Summe übertrug Bellenhaus auf ein Konto einer Stiftung mit Sitz in Liechtenstein. Letztere habe er selbst gegründet, so Bellenhaus. „Marsalek wusst von dieser Stiftung.“ Verfügungsgewalt über die Konten von Al Alam „hatte allein ich“. Ursprünglich forderte Bellenhaus nach eigenen Angaben ein Jahresgehalt von 950000 Euro. Er bezifferte sein damaliges Arbeitseinkommen auf 13000 Euro pro Monat.
Die Hauptverhandlung setzt die zuständige 4. Wirtschaftsstrafkammer des Gerichts am Mittwoch kommender Woche fort.