Wirecard - lösbar mit mehr Kontrolle?
Nach den offenbar kriminellen Vorgängen bei Wirecard wird nun nach Schuldigen und Versäumnissen gesucht. Wirtschaftsminister Peter Altmaier, Finanzminister Olaf Scholz oder Justizministerin Christine Lambrecht haben dabei weniger Schuld oder versagt. Bestenfalls wären sie Bauernopfer. Nach Ashby’s Law müsste ein Kontrollsystem noch größer und umfassender sein als das zu kontrollierende System. Unmöglich. Gegen kriminelle Energie hilft auch mehr externe Kontrolle nur bedingt. Vorrangig sind unternehmensinterne Kräfte und Strukturen in den Unternehmen deutlich zu stärken. Notwendig sind vor allem grundlegende Veränderungen im Gesamtsystem. In den Blick genommen werden müssen die gesetzlichen Vorgaben für Rechnungslegung und Bilanzierung, ihre unternehmensinterne Erstellung und Kontrollen sowie externe Prüfung einschließlich der Frage, welche Prüfungsstandards gelten und wer diese mit welcher Legitimation festlegt. Eine Herkulesaufgabe. Prüfer haben versagtIn der Hauptverantwortung stehen neben dem Vorstand in erster Linie der Aufsichtsrat, die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft und – jedenfalls bisher – die von Industrie und Handel und ihren Verbänden geschaffene privatrechtliche DPR (“Bilanzpolizei”), über die das Bundesministerium der Justiz die Aufsicht führt. Es gab bei Wirecard keinen Prüfungsausschuss, keine wirksame interne Revision (IKS) und kein hinreichendes Compliance-System. Die Sachkunde der Arbeitnehmerseite fehlte. Der Aufsichtsrat war nicht mitbestimmt. Alles Alarmzeichen und äußerst fragwürdig für ein Dax-30-Unternehmen. Die Larmoyanz und die bisherigen Äußerungen von EY erschrecken. Jeder ehrenamtliche Revisor eines Vereins lässt sich am Jahresende Originale der Sichteinlagen von Konten vorlegen. EY hat ein Büro in Singapur. Muss ein Wirtschaftsprüfer nicht prüfen, ob ein Viertel (!) des Bilanzkapitals auf den Konten tatsächlich vorhanden ist?Auch die privatrechtlich organisierte DPR, die anstelle der BaFin prüft, hat versagt. Sie argumentiert, alles sei prima nach ihren (internen) Vorschriften gelaufen. Falsch. Das DPR-Prüfungsverfahren sieht drei verschiedene Prüfungsarten vor: die Anlass-, die Stichproben- und die Verlangensprüfung. Eine Anlassprüfung hat nach den internen DPR-Vorschriften nur dann zu unterbleiben, wenn offensichtlich kein öffentliches Interesse an der Prüfung besteht. Spätestens seit 2015 sowie der Aufnahme von Wirecard in den Dax gab es genügend Gründe und öffentliches Interesse für eine Anlassprüfung! Die DPR ist jedoch erst nach Aufforderung durch die Bafin im Februar 2019 mit einer Verlangensprüfung tätig geworden. Auch dabei hat sie versagt. Ein Prüfer reicht bei einer solchen Komplexität und echtem Prüfungswillen nicht aus. Die DPR hätte mit mehreren Prüfern loslegen oder von ihrer Möglichkeit Gebrauch machen können, Dritte mit der Prüfung zu beauftragen.Hinzu kommt ein grundsätzlicher Konstruktionsfehler der DPR. Auch dank der “Börsen-Zeitung” ist seit längerem bekannt, dass es bei der DPR an Transparenz und Unabhängigkeit, und hier besonders des Präsidenten, mangelt. Bei der Bundesbank und der EZB darf niemand mit Aktien handeln. Bei der DPR ist es heute dagegen sogar noch möglich, dass der Präsident gleich in drei lukrativen Aufsichtsräten sitzt und gleichzeitig dort Prüfungsausschussvorsitzender ist. Welche Unternehmen die DPR prüft, wird nicht veröffentlicht, ebenso ist ihre Verfahrensordnung öffentlich nicht bekannt. Unabhängigkeit, gute Governance und Transparenz sehen anders aus. DPR hat sich nicht bewährtDie Idee der DPR als ein Relikt aus neoliberaler Zeit der Selbstregulation hat sich bedauerlicherweise nicht bewährt. Schlichtweg unverständlich, wenn jetzt vereinzelten Forderungen nachgegeben würde, die DPR sollte mehr Kompetenzen einschließlich forensischer Prüfungen bekommen. Das bleibt demokratisch kontrollierten, staatlichen Institution vorbehalten. Das zweistufige Enforcement als eine Antwort auf Bilanzmanipulationen und Betrugsfälle wie Enron und andere ist gescheitert. In jedem Unternehmen sind mehrere Stellen und eine Vielzahl von Mitarbeiter/innen mit der Rechnungslegung befasst. Entdecken Beschäftigte unzulässige Manipulationen oder gar Betrug und können sie dies unternehmensintern nicht abstellen, bietet das geltende Arbeitsrecht keinen Schutz. Ihnen wird regelmäßig fristlos gekündigt, wenn sie Betrug öffentlich machen. Die Änderung der Gesetze zugunsten von Whistleblowern gegenüber staatlichen Stellen ist prioritär und zudem im Sinne jedes Kleinanlegers.Zur nötigen Stärkung gehört ebenfalls ein mitbestimmter Aufsichtsrat mit einem obligatorischen Prüfungsausschuss, spätestens, wenn die Kapitalgesellschaft börsennotiert ist. Wer könnte besser Bescheid wissen als interne Kenner und Kontrolleure? Jedes Aufsichtsratsmitglied muss zudem das Recht erhalten, jederzeit – auch ohne Mehrheitsbeschluss im Gremium – Unterlagen einzufordern, um bei ersten Betrugvermutungen seiner vollständigen Überwachungspflicht nachkommen zu können. Darüber hinaus sollte der Aufsichtsrat mit einem Drittel der Stimmen eine zusätzliche Prüfung beschließen können. Auch Letter of Intent sind unaufgefordert vorzulegen. Der Aufsichtsrat braucht weiterhin die Befugnis, sich ohne Einschaltung des Vorstandes direkt von der internen Revision oder Compliance-Abteilung berichten zu lassen.Auch das System der Wirtschaftsprüfung gehört insgesamt auf den Prüfstand. Für den Bereich Zahlungsdienstleister am besten auf europäischer Ebene. Vorschläge für eine BaFin-Reform liegen bereits vor. Das Kompetenz-Wirrwarr beim Enforcement sollte beseitigt werden: Für fehlerhafte Halbjahresberichte und Bußgelder ist die BaFin, für Jahresfinanzberichte das Bundesamt für Justiz zuständig. Das ist ineffektiv. Struktur und Prüfungsstandards der privatrechtlich, berufsständisch organisierten Standardisierungs-Komitees wie Deutsches Rechnungslegungs Standards Committee sind zu ändern. Wie kann es sein, dass die Prüfungsregeln und -standards wie ISA, IDW PS und IDW PH von den Verbänden und ihren Lobbyisten selbst bestimmt werden? Eine unabhängige, demokratische Einflussnahme in den Gremien ist unabdingbar. Schweigegebot muss fallenFür Wirtschaftsprüfungsgesellschaften sind Wechsel und Trennung von Prüfung und Beratung schon auf dem Weg. Das bisherige “Schweigegebot” der Wirtschaftsprüfer (und der BaFin!) muss im Sinne demokratischer Transparenz für Anleger und Öffentlichkeit fallen – so wie die SEC dies seit 2004 erfolgreich praktiziert. Bei ausreichenden Verdachtsmomenten für fehlerhafte oder gar betrügerische Rechnungslegung muss der Wirtschaftsprüfer verpflichtet werden, alle Aufsichtsratsmitglieder und den Prüfungsausschuss sowie die BaFin unverzüglich zu informieren. Debattiert werden muss die Haftungsbegrenzung von 4 Mill. Euro, eine Anbindung an die Bilanzsumme wäre ein Weg. Versicherungen nützen nur wenig, wie Erfahrungen mit D&O-Versicherungen zeigen. Geschädigten Anlegern könnte eher geholfen werden, wenn im europäischen Maßstab die Schranke von Vorsatz oder grober Fahrlässigkeit fällt.Unternehmen sind nicht dazu da, sich zu bereichern. Es fehlt neben einer grundsätzlichen Kritik der Rechnungslegung und ihrer Überwachung an einer öffentlichen Debatte über Unternehmenswerte und Governance. Sach- und Finanzkapital sind heute schon nicht mehr das Maß aller Dinge. Wie wird eine nachhaltige Wertentwicklung im Sinne des Unternehmens und seiner Stakeholder zukünftig am besten abgebildet? Welche Kennzahlen sind dafür obligatorisch? Ohne eine klare Ergänzung im Aktien- wie GmbH-Gesetz durch den Begriff “nachhaltiges Unternehmensinteresse” (im Interesse aller Stakeholder) und auch im Sinne des Gemeinwohls für die Führung einer Gesellschaft wird es keinen durchschlagenden Erfolg geben. Wird die Regierungskoalition zu einem solchen “Reformsprung” den Mut und die Kraft besitzen? Dietmar Hexel, Ex-DGB-Vorstand und Mitglied der Kodexkommission