Rezension

Zur Entfremdung von der eigenen Wählerschaft

Die Selbstgerechten. Sahra Wagenknecht. Campus Verlag, Frankfurt 2021, ISBN 978-3-593-44668-4, 345 Seiten, 24,95 Euro.

Zur Entfremdung von der eigenen Wählerschaft

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Die Selbstgerechten. Sahra Wagenknecht. Campus Verlag, Frankfurt 2021, ISBN 978-3-593-44668-4, 345 Seiten, 24,95 Euro.

Nur wenige Bücher haben in diesem Jahr in Deutschland für so viel Furor gesorgt wie Sahra Wagenknechts „Die Selbstgerechten“. Die Kritik in der eigenen Partei gipfelt darin, dass mehrere „Die Linke“-Mitglieder im Juni einen Antrag auf Ausschluss der ehemaligen Fraktionschefin der Partei im Bundestag eingereicht haben. Hat Wagenknecht, die mit ihren Meinungen schon häufiger von der Parteilinie abwich und dem Landesverband NRW angehört, mit ihrem neuen Buch den Bogen überspannt? Was ist es, was einerseits viele Parteifreunde auf die Palme bringt und andererseits beim politischen Gegner für ungläubiges Staunen und – im stillen Kämmerlein – für Zustimmung sorgt?

Wagenknecht greift in ihrem Buch die Abgehobenheit und Arroganz gut situierter Bürger an, die etwa ein Elektroauto fahren und verächtlich auf jene herabschauen, die weiter Fahrzeuge mit Benzin- oder Diesel-Kraftstoff nutzen oder die ihr Obst und Gemüse stets aus dem Bioladen holen und den Kauf im Discounter von derlei Lebensmitteln aus dem massenhaften Anbau unter Nutzung von Schädlingsbekämpfungsmitteln brandmarken. Dass es sich Schlechtverdiener und sogar Teile der Mittelschicht nicht leisten können, E-Autos und ausschließlich Biolebensmittel zu kaufen, ist ihnen entweder egal oder es kommt ihnen gar nicht erst in den Sinn. Da eine solche Haltung um sich gegriffen habe, blieben Konzepte für sozialen Zusammenhalt genauso auf der Strecke wie schlecht verdienende Frauen, arme Zuwandererkinder, ausgebeutete Leiharbeiter und große Teile der Mittelschicht.

Wer sich auf Gendersternchen konzentriert statt auf Chancengerechtigkeit und dabei Kultur und Zusammengehörigkeitsgefühl der Bevölkerungsmehrheit vernachlässigt, arbeite der politischen Rechten in die Hände, so Wagenknecht. Damit dürfte weniger die Klientel ihrer eigenen Partei als vielmehr die der „Grünen“ ihr Angriffsziel sein. Doch auch in den sozialdemokratischen, sozialistischen und anderen linken Parteien der meisten europäischen Länder ist eine solche Geisteshaltung zur dominierenden Strömung geworden.

Urban, divers, kosmopolitisch, individualistisch – links sei für Viele heute vor allem eine Lifestyle-Frage, meint Wagenknecht. Doch diese Form von Linksliberalismus, der sich progressiv wähnt, spalte die Gesellschaft weiter, weil er sich nur für das eigene Milieu interessiert und Diskriminierung aufgrund sozialer Herkunft ignoriert. Im ersten Teil des Buches wird damit gezeigt, weshalb selbst treue Wähler von Parteien links der Mitte die Flucht ergriffen haben, nun heimatlos sind oder nach rechts schwenkten.

In ihrer Kritik an den Lifestyle-Linken – unter diesem Schlagwort, das nicht einmal Teil des Buchuntertitels ist, aber in der Öffentlichkeit inzwischen weit mehr als der eigentliche Titel mit dem Werk verbunden wird – mag der Rezensent der Autorin folgen. Doch Wagenknecht, promovierte Volkswirtin, entwickelt im zweiten Teil ihres Buches ein Programm, mit dem linke Politik wieder mehrheitsfähig werden soll. In klassenkämpferischem Jargon fasst sie das an einer Stelle mit „Gemeinsam statt egoistisch“ zusammen. Dieses 125-seitige Programm wirkt bei allen begrüßenswerten Versuchen, eingetretene Pfade neosozialistischen Gedankenguts zu verlassen, doch oft zu schwammig und letztendlich doch zu sehr den Denkschemata der Linken verhaftet. Am deutlichsten wird das in Kapitel 10 („Wie wir die Herrschaft des großen Geldes beenden“) und Teilen von Kapitel 11 (etwa: „Warum der Kapitalismus innovationsfaul wurde“). Nur wenige von Wagenknechts Vorschlägen dürften alltagstauglich bzw. in die Praxis umsetzbar sein.

Wagenknecht scheut, wie sie immer wieder bekräftigt, weder „Beifall von der falschen Seite“ noch die Wut der Genossen. Das Buch ist auch deshalb eine lesenswerte Analyse des Niedergangs der politischen Linken durch die Entfremdung von ihrer einstigen Wählerschaft.

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