Die sieben Probleme der Energiewende
Die sieben Probleme der Energiewende
In die grüne Transformation des deutschen Stromsystems ist neuer Schwung gekommen. Für die Energie- und Klimaziele 2030 reicht das aber noch nicht aus.
Von Andreas Heitker, Berlin
Im vergangenen Monat wurde erneut ein Rekord geknackt: 62% der deutschen Stromerzeugung basierten auf erneuerbare Energien – so viel wie noch nie in einem April. Nach Angaben des Thinktanks Agora Energiewende lieferten allein die Windräder an Land ein Drittel mehr Strom als alle deutschen Kohlekraftwerke zusammen. Die Kohleverstromung fiel auf den niedrigsten April-Stand seit Datenerfassung. Wirtschaftsminister Robert Habeck sieht mittlerweile „eine ganz neue Dynamik beim Erneuerbaren-Ausbau“ erreicht.
Natürlich sind Monatsdaten immer nur Momentaufnahmen, die von zahlreichen externen Faktoren beeinflusst werden. In diesem Fall waren es etwa ein wärmeres Wetter, ein höheres Windaufkommen, weniger Ausfälle in den französischen Atomkraftwerken oder auch ein stagnierender Industriestrombedarf in der EU, was den Bedarf an deutschem Kohlestrom reduziert. Aber der Trend ist trotzdem klar und wird von den Branchenexperten auch nicht bestritten. „Die gesetzlichen Rahmenbedingungen im Stromerzeugungssektor haben sich im Vergleich zu den Vorjahren deutlich verbessert“, heißt es etwa im neuen „Fortschrittsmonitor Energiewende“, den EY und der Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW) herausgegeben haben.
Dies zeigte sich bereits in den Zahlen von 2023: Erstmals wurde in Deutschland mehr erneuerbarer als konventioneller Strom erzeugt. Es wurden so viele neue Windräder genehmigt wie seit sieben Jahren nicht mehr. Beim so dringend benötigten Stromnetzausbau wurden viermal so viele Trassenkilometer genehmigt wie noch 2021. Und die Solarbranche boomt: Hier wurde ein neuer Zubaurekord verbucht. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin) kam in der vergangenen Woche in einer Marktanalyse daher zu dem Ergebnis: „Die Stromversorgung mit mindestens 80% erneuerbarer Energie ist im Jahr 2030 ohne Kern- und Kohlekraftwerke machbar.“
Das ist das vom Erneuerbare-Energien-Gesetz für 2030 vorgegebene Ziel: 80% der Stromproduktion sollen aus Sonne, Wind, Biomasse und Wasser kommen. Der Plan sieht bis dahin eine installierte Leistung von 215 Gigawatt (GW) Fotovoltaik vor, 115 GW Onshore-Wind sowie 30 GW in den Windparks in Nord- und Ostsee. Nimmt man die Zahlen von 2023, müssten sich die installierten Solarmodule bis dahin also noch fast verdreifachen, die Onshore-Leistung müsste sich nahezu verdoppeln und die Offshore-Kapazitäten sogar fast vervierfachen. Das sind trotz der mittlerweile entfachten neuen Dynamik ehrgeizige Ziele.
Aber bereits 2035 soll das deutsche Stromsystem nach dem Willen der Politik weitgehend klimaneutral sein – auch weil eine Dekarbonisierung in anderen Sektoren vor allem durch eine stärkere Elektrifizierung gelingen soll, siehe Verkehr/E-Mobilität oder Gebäude/Wärmepumpen. Problem eins: Gerade die Bereiche Verkehr und Gebäude gelten bei der Erreichung der Klimaziele als Sorgenkinder. Der Anteil erneuerbarer Energien hat sich im Verkehrssektor in den vergangenen 15 Jahren kaum erhöht. Das Ziel, dass am Ende der Dekade 15 Millionen reine E-Autos auf deutschen Straßen unterwegs sind, erscheint aktuell eher utopisch. Und im Gebäudebereich liegt der Erneuerbare-Anteil trotz jüngster Verbesserungen ebenfalls noch bei unter 20%. Hier soll das neue Heizungsgesetz nun zwar den Weg ebnen. Netz- und Lieferengpässe, der Fachkräftemangel sowie die bürokratischen Förderprozesse (siehe unten) gelten aber weiterhin als Bremsen.
Große regionale Unterschiede
Problem zwei: die Finanzierung. Auch die Strommärkte benötigen noch sehr viel Geld, soll der grüne Umbau tatsächlich wie anvisiert gelingen. Nach Berechnungen von EY und BDEW sind bis 2030 Investitionen von 721 Mrd. Euro nötig, um das komplexe System endgültig neu aufzustellen. Knapp die Hälfte dieser Summe (353 Mrd. Euro) müsste demnach in die Stromerzeugung fließen – für den weiteren Zubau von Wind- und Solarparks, aber auch für die nötigen wasserstofffähigen Backup-Kraftwerke. Der zweite dicke Batzen an Investitionen ist mit 281 Mrd. Euro für den Stromnetzausbau fällig, also sowohl für die Hoch- und Höchstspannungsleitungen als auch für die Verteilnetze. Hinzu kommen der ebenfalls milliardenschwere Aufbau einer Wasserstoff-Infrastruktur, der weitere Ausbau der Fernwärme sowie Investitionen in Speicher.
Auch die regionalen Unterschiede beim Ausbau der Erneuerbaren könnten sich im weiteren Verlauf der Energiewende noch zum Problem (drei) entwickeln. Bayern ist beispielsweise beim Aufbau von Fotovoltaik ganz vorn mit dabei, hat im vergangenen Jahr aber gerade einmal 26 Megawatt (MW) an neuer Windleistung in Betrieb genommen. Zum Vergleich: In Nordrhein-Westfalen waren es über 500, in Niedersachsen über 600 und im kleinen Schleswig-Holstein über 1.200 MW. Das andere große südliche Bundesland Baden-Württemberg war trotz seines grünen Ministerpräsidenten mit 59 MW an neuer Windleistung im letzten Jahr nicht sehr viel besser als Bayern. Habecks Ministerium mahnte jüngst bereits mehr Fortschritte gerade in diesen Ländern an und warnte vor Verzögerungen beim Erreichen der Energieziele.
Backup-Kraftwerke gesucht
Problem vier: die fehlenden Backup-Kapazitäten. Zu den großen offenen Punkten der Energiewende gehört zweifelsohne die Absicherung der Versorgungssicherheit für die Zeiten, wenn die Sonne nicht scheint und der Wind nicht weht. Der Kompromiss, auf den sich die Ampel-Koalition in ihrer Kraftwerksstrategie Anfang Februar verständigt hat, sieht bis 2030 neue Erzeugungskapazitäten von bis zu 10 Gigawatt vor. Es geht um „H2-ready-Gaskraftwerke“ – also Anlagen, die spätestens in den Jahren 2035 bis 2040 vollständig mit Wasserstoff betrieben werden sollen. Kostenpunkt nach aktuellem Stand: 16 Mrd. Euro. Deutlich teurere Kraftwerkstypen wie Hybrid- oder Sprinterkraftwerke, die von Anfang an zu 100% mit Wasserstoff laufen, fanden keine Berücksichtigung. Zusätzlich soll es ab 2028 einen Kapazitätsmechanismus geben, der weitere Investitionen in gut steuerbare Kraftwerke anreizen soll.
Details stehen aber noch aus, und die Energiewirtschaft dringt auf Entscheidungen. Denn wenn die 15 bis 20 neuen Kraftwerke tatsächlich bis 2030 fertig sein sollen, müsste es in den nächsten Monaten die konkreten Ausschreibungen geben. Erst einmal muss aber die EU-Wettbewerbsbehörde in dem dazu laufenden Beihilfeverfahren grünes Licht geben. Habeck ist optimistisch, dass es durch die Europawahlen nicht zu Verzögerungen kommt und es eine Entscheidung noch bis zum Ende des Mandats der aktuellen EU-Kommission gibt. Denn klar ist: Ohne die neuen Backup-Kapazitäten wird der Kohleausstieg nicht vollzogen.
Atomkraft für Energiewende „irrelevant“
Obwohl von politischer Seite auch ein Jahr nach dem Abknipsen der letzten deutschen Meiler immer wieder thematisiert, wird die Atomenergie auch künftig wohl keine Rolle spielen. Die CDU hat in ihrem neuen Grundsatzprogramm zwar festgehalten, Deutschland könne zurzeit nicht auf „die Option Kernkraft“ verzichten. Das DIW kommt in seiner aktuellen Strommarkt-Analyse dagegen zu dem klaren Fazit: Der Bau neuer Kernkraftwerke sei „für die Energiewende in den kommenden Jahrzehnten irrelevant“. Atomenergie sei bis heute nicht wettbewerbsfähig. Und weltweit gebe es mitnichten eine Renaissance der Atomenergie. Außer in China sei der Bau neuer Meiler praktisch zum Erliegen gekommen. Die Leistung der bestehenden Kraftwerke sei 2023 zudem gesunken. Laut DIW war das Abschalten der letzten Meiler auch kein relevanter Treiber der deutschen Strompreise.
Fehlende Atomkraft dürfte damit kaum ein Problem für die Energiewende werden – im Gegensatz zu fehlendem grünen Wasserstoff. Hier geht es zunächst um den kompletten Aufbau einer neuen Infrastruktur, angefangen von den Netzen bis hin zu Elektrolysekapazitäten. 10 GW, so das Ziel der Bundesregierung, sollen bis 2030 stehen, da 30 bis 50% des für die grüne Transformation der Industrie und für die Stromproduktion benötigten Wasserstoffs aus Deutschland kommen sollen. Viele Branchenexperten halten dies für äußerst ambitioniert.
Fachkräfte fehlen
Hinzu kommt – Problem sechs – der Fachkräftemangel. Laut einer Studie von Ende 2023 des Instituts der Deutschen Wirtschaft (IW) fehlen aktuell in den für den Ausbau der Solar- und Windenergie relevanten Berufen 216.000 Fachkräfte. Es geht um Informatiker, Bauelektriker oder Handwerker im Bereich Sanitär-, Heizungs- und Klimatechnik. Das IW spricht vom „Nadelöhr der Energiewende“. Und auch die lähmende Bürokratie darf in dieser Auflistung natürlich nicht fehlen. Zwar wurden von der Ampel in den letzten zwei Jahren schon viele Genehmigungsverfahren vereinfacht, und das gerade verabschiedete Solarpaket I enthält ein ganzes Bündel an weiteren Beschleunigungs- und Entbürokratisierungsmaßnahmen. Dass das Tempo aber noch weiter steigen muss, ist allen Beteiligten klar.
Wo also steht Deutschland aktuell bei seiner Energiewende? Die Sicht ist unterschiedlich. Der zuständige Minister Habeck verweist auf die neue Dynamik: „Wichtig ist jetzt: Kurs halten.“ Der Bundesrechnungshof ist da anderer Meinung. Im März zogen die Prüfer in einem Sondergutachten ein eher ernüchterndes Zwischenfazit und warnten vor einer Gefährdung der Versorgungssicherheit. Die Bundesregierung, so ihre Forderung, müsse „umgehend und zielgerichtet umsteuern“.
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