S&P-Rückzieher bei ESG-Scores verschärft Spaltung am Credit-Markt
Im Blickfeld
S&P-Rückzieher bei ESG-Scores spaltet Credit-Markt
S&P verteilt im Rahmen ihrer Credit Scores keine Nachhaltigkeitsnoten mehr. Damit wird sie zum Ausreißer unter den Ratingagenturen – Analysten verweisen auf politischen Druck.
Von Alex Wehnert, New York
Durch den Markt für Kreditratings läuft seit der vergangenen Woche ein Riss. Denn die Agentur S&P Global hat damit aufgehört, den Einfluss von Nachhaltigkeitskriterien auf die Credit Scores von Unternehmen auszuweisen. Erst seit 2021 stufte der Anbieter bei der Zuteilung von Bonitätsnoten auf einer absteigenden Skala von eins bis fünf ein, inwieweit Firmen hinsichtlich des Umweltschutzes, sozialer Faktoren und der Unternehmensführung (ESG) Risiken ausgesetzt sind.
Den Versorger First Energy, der republikanische Abgeordnete in Ohio bestochen haben soll, um 1,3 Mrd. Dollar an staatlichen Hilfen für zwei Atomkraftwerke zu erhalten, bewertete S&P im Rahmen der Bonitätseinstufung beispielsweise mit der Governance-Note vier. Nun sollen die ESG-Analysen der Ratingagentur aber nur noch in Textform in ihre Credit-Berichte einfließen und nicht mehr numerisch.
Konkurrenz hält an Praxis fest
Damit wird S&P zum Ausreißer. Konkurrent Fitch lancierte ein eigenes Scoring-System, das die Auswirkungen von Nachhaltigkeitsfaktoren auf Credit-Ratings zeigen soll, bereits 2019. Moody’s folgte im Januar 2021 und fokussierte sich dabei zunächst auf die Bonitätseinstufung staatlicher Emittenten, erweiterte die Praxis anschließend aber auf zahlreiche private Sektoren. Die beiden anderen großen Ratingagenturen neben S&P hegen nach eigenen Angaben keine Pläne, das ESG-Scoring aus der Bewertung der Kreditwürdigkeit von Emittenten zu streichen.
Allerdings steht S&P derzeit unter besonderem politischen Druck – auch wenn der Dienstleister betont, die Abschaffung der ESG-Credit-Scores habe nichts mit Attacken aus dem republikanischen Spektrum zu tun. Bondmarktakteure verweisen allerdings darauf, dass mehrere US-Bundesstaaten im September 2022 wegen der Nachhaltigkeitsbewertungen Ermittlungen gegen die Ratingagentur anstießen.
Die beteiligten Generalstaatsanwälte äußerten den Verdacht, S&P vermische finanzielle Fakten mit radikalen Meinungen und verstoße somit gegen Verbraucherschutzgesetze. Stein des Anstoßes war insbesondere die Veröffentlichung von ESG-Indikatoren für US-Bundesstaaten und territoriale Emittenten im März des vergangenen Jahres. Republikanische Politiker sahen darin eine unangemessene Politisierung des Ratingprozesses – obwohl die Nachhaltigkeitsbewertungen einen ähnlich negativen Einfluss auf den Credit-Ausblick sowohl "roter" als auch "blauer" Staaten hatten.
Gerade Marlo Oaks, der Treasurer von Utah, positionierte sich klar und forderte S&P auf, keine ESG-Scores auf das "AAA"-Rating seines Staats anzuwenden. Die Agentur hielt zunächst dagegen: Sie gestatte es keinem Emittenten, ihre Analysen und Meinungen zu Credit-Ratings auf unangemessene Weise zu beeinflussen. Nun also die Kehrtwende, die Oaks als "Schritt in Richtung Entpolitisierung" der Finanzmärkte begrüßte. Andere republikanische Amtsträger verbuchen den Rückzieher ebenfalls als Sieg für ihre Sache.
Eine der umstrittensten Figuren im ideologisch aufgeladenen US-Nachhaltigkeitsstreit äußert sich weniger überschwänglich: Glenn Hegar, der öffentliche Rechnungsprüfer von Texas, kritisierte, dass ESG-Analysen Bestandteil der Credit-Berichte von S&P bleiben. Zwar sei gute Governance das Fundament der Kreditwürdigkeit einer Institution, die anderen Nachhaltigkeitskomponenten seien aber zu vage definiert, um zu einem aussagekräftigen Rating beitragen zu können.
Hegars Behörde hat die Eskalation der ESG-Debatte entscheidend befeuert. Im August 2022 veröffentlichte Texas eine Liste von zehn Vermögensverwaltern und nahezu 350 Fonds, die angeblich Energieunternehmen boykottierten. Hegar forderte staatliche und kommunale Pensionsfonds auf, ihre Beteiligungen an den Dienstleistern und Vehikeln abzubauen.
S&P bezeichnete die Maßnahmen als Teil einer koordinierten Kampagne. Mit Florida verabschiedete ein weiterer republikanischer Bundesstaat zuletzt umfangreiche Anti-ESG-Gesetze. Seither ist es Emittenten verboten, eine Agentur zu beauftragen, wenn deren Nachhaltigkeitsscores das Rating negativ beeinflussen.
Der ideologische Konflikt in den USA erschwert nach Ansicht von Analysten eine konstruktive Debatte um ESG-Bewertungen. Laut einem Ende 2022 veröffentlichten Moody’s-Bericht beeinflussten Nachhaltigkeitsanalysen das Rating von 41% der 5.700 abgedeckten Emittenten. Bei 20% sei dieser Einfluss negativ ausgefallen, bei weiteren 30% drohten künftige Herabstufungen aus ESG-Gründen.
Dennoch fällt die Resonanz für Nachhaltigkeitsscores unter Investoren verhalten aus. Die Bedeutung von Umwelt, Sozialem und guter Unternehmensführung in den Anlagestrategien ist in den vergangenen Jahren zwar gestiegen. So haben gemäß einer im laufenden Jahr veröffentlichten Umfrage der Nachhaltigkeitsberatung Environmental Resources Management (ERM) 43% der 33 teilnehmenden Investmentteams die Vorgabe erhalten, ESG-Einstufungen in den Anlageprozess zu integrieren – 2020 waren es noch 12%.
Doch ihr Vorgehen hat sich verändert: Zählten bei der vorherigen Umfrage noch 41% der Teilnehmer das hauseigene Research zu den drei wichtigsten Informationsquellen in Bezug auf Nachhaltigkeit, waren es im laufenden Jahr 53%. Damit liegen interne Analysen nach Zahl der Angaben auf Augenhöhe mit den Ratingagenturen, deren Bedeutung laut ERM sogar leicht zurückgegangen ist.
Allerdings beziehen sich die Befragten hauptsächlich auf breite Nachhaltigkeitsratings, die einen Überblick über die ESG-Konformität eines Unternehmens vermitteln sollen. Solche vergibt S&P weiterhin: Die in einen Korruptionsskandal verstrickte First Energy aus Ohio liegt auf einer Skala von 0 bis 100 bei einem Wert von 38. Die gestrichenen Noten von fünf bis eins sollten dagegen keine übergreifende Bewertung darstellen, sondern die Relevanz von ESG-Faktoren für das Credit-Rating illustrieren.
Kritik aus dem Markt
Bondmarktakteure kritisierten indes, S&P habe mit den ESG-Scores ein Bewertungssystem undurchsichtig in einem weiteren verpackt. Für Investoren sei unklar geblieben, worin die finanziellen Risiken der Unternehmen durch ESG-Verstöße konkret gelegen hätten. Ökonomen der Universität Cambridge gehen derweil davon aus, dass der Klimawandel milliardenschwere zusätzliche Zinskosten nach sich ziehen wird, die Ratingagenturen bisher überhaupt nicht berücksichtigten. Die zunehmende Spaltung im Credit-Markt dürfte nach Meinung von Analysten allerdings ebenfalls nicht dazu beitragen, die Transparenz für Investoren zu erhöhen.