Von Estland lernen – Wir sollten über automatisierte Gerichtsverfahren sprechen

„Es erben sich Gesetz und Rechte wie eine ew’ge Krankheit fort“, ließ der Jurist Johann Wolfgang von Goethe seinen Mephisto in Faust formulieren und brachte damit die allgegenwärtige Bedeutung normativer Regelungen in unserer Gesellschaft ironisch...

Von Estland lernen – Wir sollten über automatisierte Gerichtsverfahren sprechen

„Es erben sich Gesetz und Rechte wie eine ew’ge Krankheit fort“, ließ der Jurist Johann Wolfgang von Goethe seinen Mephisto in Faust formulieren und brachte damit die allgegenwärtige Bedeutung normativer Regelungen in unserer Gesellschaft ironisch auf den Punkt. Seit Goethes Zeiten hat sich die Gesellschaft massiv verändert. Dennoch scheint es bisweilen so, als sei die Juristerei mehr oder weniger auf dem gleichen Stand wie zu den Zeiten von Deutschlands größtem Dichter.

Disruption im Rechtswesen

Der Schein trügt allerdings: Die digitale Disruption, die schon jetzt zahlreiche Lebens- und Wirtschaftsbereiche nachhaltig verändert hat, ist nun auch Treiber für eine der grundlegendsten Umwälzungen im Rechtswesen. „LegalTech“ verdrängt immer mehr die herkömmliche Arbeit von Juristen. Wiederkehrende und standardisierbare Tätigkeiten werden in Anwaltskanzleien und Unternehmen zunehmend digitalisiert, auch dann, wenn es sich um Rechtsfragen handelt. Gleichzeitig setzt eine stetig wachsende Zahl von Verbraucherinnen und Verbrauchern ihre Rechte und Ansprüche digital über darauf spezialisierte Internetplattformen durch.

Nur die Justiz stützt sich in weiteren Teilen immer noch auf Papierakten und öffentliche mündliche Verhandlungen in Gerichtssälen. Doch auch hier lohnt es sich, näher hinzuschauen: Schon jetzt macht es §128a Zivilprozessordnung möglich, Verhandlungen bei Zivilprozessen per Videokonferenztechnik durchzuführen – ein erster Schritt der Modernisierung.

Bis zur Coronakrise machten davon aber nur die wenigsten Gerichte Gebrauch. Der Grund: Es mangelte an notwendiger technischer Ausstattung, auch die Nachfrage von Parteien schien nicht existent. Die Corona-Pandemie und begleitende Maßnahmen zum Infektionsschutz haben auch hier zu einem Digitalisierungsschub geführt, so dass inzwischen sogar die ersten Oberlandesgerichte Verhandlungen per Videokonferenz durchführen.

Was auf den ersten Blick wie eine positive Entwicklung wirkt, ist allerdings schon jetzt veraltet, denn die Digitalisierung würde heute weit modernere Formen juristischer Entscheidungsfindung ermöglichen. Die LegalTech-Plattformen mit ihren algorithmischen und daher (nahezu) unbegrenzt skalierbaren Prüfungen alltäglicher Rechtsansprüche machen dies seit einigen Jahren vor.

Es ist daher berechtigt zu fragen, ob die Digitalisierung der Justiz nicht noch einen entscheidenden Schritt weiter gehen kann. Konkret: Können Gerichtsentscheidungen im Zeitalter digitaler Disruption und einer hochgradig entwickelten künstlichen Intelligenz nicht auch ganz oder teilweise automatisiert erfolgen?

Ein erster Anknüpfungspunkt für solche Verfahren in Deutschland wären die – nach den jüngsten Entscheidungen der Europäischen Kommission zur weiterhin bestehenden Erstattungspflicht – den Gerichten nun drohenden ungezählten Klagen von Fluggästen auf Erstattung ihres Flugpreises für Flüge, die wegen der Coronakrise annulliert wurden. Rechtlich und tatsächlich sind diese Ansprüche ohne Weiteres automatisiert prüfbar, wie die in diesem Bereich weit verbreiteten LegalTech-Angebote zeigen. Letztlich liegen den Ansprüchen nämlich gar keine komplizierten Rechts-, sondern streitfreie Evidenzfragen in Form von Datenabgleichen zugrunde: Wurde der Flug annulliert, wie hoch war der Flugpreis etc. Solche einfachen Abgleiche könnten getrost einem Algorithmus überlassen werden.

Verfassungsrechtlich ist eine automatisierte Entscheidungsfindung jedoch komplex: Art. 101 Grundgesetz gibt jedem – Kläger und Beklagten – das Recht auf einen gesetzlichen Richter. Die Frage: Könnte das auch eine Maschine sein? Es ist anzunehmen, dass sich die Mütter und Väter des Grundgesetzes vor mehr als 70 Jahren mit dieser Fragestellung nicht befasst haben. Doch sollte dieser sehr nachvollziehbare Mangel an Zukunftsvision eine bindende Wirkung für alle Ewigkeit haben – obwohl technisch möglich ist, was vor wenigen Jahrzehnten noch völlig undenkbar schien?

Recht auf einen Richter

Im Gegenteil: Das Grundgesetz sollte auch in dieser wichtigen Frage mit der Zeit gehen und kein unüberwindbares Hindernis sein. Der Gewinn durch die Entlastung wäre enorm und würde es ermöglichen, die menschliche Arbeitskraft und Erfahrung von Richterinnen und Richtern effizienter dort einzusetzen, wo es um mehr als den schlichten Abgleich von Daten mit zwingender Rechtsfolge geht, so dass andere Prozesse schneller geführt werden könnten.

„robot judge“ in Estland

Wer den Gedanken automatisierter Gerichtsentscheidungen dennoch als Utopie oder gar als Dystopie abtun möchte, der sollte den Blick auf unsere europäischen Nachbarn werfen: Dort hat das kleine Estland, in vielem innerhalb der Europäischen Union ein Vorreiter in Sachen Digitalisierung, einen „robot judge“ entwickelt, der Streitigkeiten unter 7000 Euro mit Hilfe digitalisierter Rechtsprechung entscheidet. Dabei laden die Parteien Dokumente und sämtliche relevanten Informationen online hoch. Auf Basis dieser digitalen Eingaben fällt dann ein Algorithmus mittels künstlicher Intelligenz ein Urteil – eine Entscheidung, die bindend ist, sofern nicht von einer der Parteien ein menschliches Berufungsgericht angerufen wird.

Das ist ein Modell, das Schule machen und die „ew’ge Krankheit“ voll und ganz ins digitale Leben heben könnte. Reif ist die Zeit dafür allemal.

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