Warum Anwälte neue Fähigkeiten benötigen
Im Interview: Philipp Glock, Kai Jacob und Michael Roth
Anwälte müssen sich neue Fähigkeiten aneignen
Die KPMG-Law-Juristen über die Erfahrungen mit dem Bot "KPMG AI Chat" und die Erkenntnisse aus dem eigenen KI-Reallabor
Im August lancierte KPMG Law den Chatbot „KPMG AI Chat“ mit generativer künstlicher Intelligenz (KI). Seither können alle Mitarbeitenden, darunter rund 330 Anwältinnen und Anwälte, in einer besonders geschützten Cloud-Infrastruktur die ChatGPT-Technologie von OpenAI für die tägliche Arbeit nutzen. Zudem wurde ein Reallabor mit sechs Partnerunternehmen ins Leben gerufen, um die KI zu erforschen und zu testen. Philipp Glock, Kai Jacob und Michael Roth von KPMG Law berichten im Interview von ihren Erfahrungen und werfen einen Blick in die von Technologie geprägte Zukunft der Anwaltsbranche.
Wie sind Sie beim Start des Reallabors und des Bots KPMG AI Chat vorgegangen?
Jacob: Uns war es wichtig, die technischen Entwicklungen und ihre Auswirkungen im Blick zu haben und den Austausch mit Unternehmen zu suchen. Deswegen haben wir im März 2023 in unserem Netzwerk gefragt, ob Interesse besteht, an einem Reallabor teilzunehmen. Die Bereitschaft war groß. Wir hatten zunächst Rückmeldung von fünf Firmen, vier aus dem Dax und ein weiteres großes Unternehmen. Später kam dann noch eine weitere Firma hinzu. Seitdem haben wir uns regelmäßig jeden Freitag eine Stunde in einer Gruppe mit 12 bis 25 Teilnehmenden der sechs Unternehmen getroffen. Und die erste Frage war immer: „Was gibt es Neues, was passiert im Markt?“
Um welche Firmen handelt es sich?
Jacob: Das Reallabor profitiert von der vertraulichen Zusammenarbeit der Beteiligten. Deshalb können wir die Namen nicht nennen.
Was ist das Ziel?
Glock: Wir wollten herausfinden, wie generative KI Rechtsabteilungen und Anwaltskanzleien im Alltag helfen kann. Was kann sie und was kann sie nicht? Was brauchen wir, damit wir unsere Arbeit besser machen können? Diese Fragen haben wir in kurzer Zeit zum Großteil beantwortet.
Unter welchen Rahmenbedingungen?
Roth: Wir haben mit Plan B, einem Microsoft-Partner, einen geschlossenen, virtuellen Raum geschaffen, den die Teilnehmenden ohne Verwendung von personenbezogenen Daten oder Geschäftsgeheimnissen nutzen konnten.
Jacob: Die ersten Tests waren eine Hinführung für konkretere Testszenarien. Im ersten Schritt haben wir zum Beispiel nur ausprobiert, wie die KI mit langen Dokumenten umgeht. Wir haben ein Dokument in Abschnitte unterteilt und abhängig davon, welcher Satz den Umbruch enthielt, haben wir verschiedene Ergebnisse erhalten.
Wie sehen die Testszenarien aus?
Jacob: Zunächst haben wir Use Cases gesammelt, um zu verstehen, wie wir durch immer präzisere Fragen besseren Output generieren können. Zum Beispiel haben wir Non-Disclosure Agreements (NDA) automatisch ausgewertet und dabei gute Ergebnisse erzielt. Dann wollten wir Prozesse neu denken: Ich bekomme ein umfangreiches NDA auf den Tisch und habe etwa 20 Minuten Zeit für die Prüfung. Was sind die fünf Top-Kriterien, mit denen ich als erfahrener Anwalt einen solchen Vertrag durchgehe? Das haben wir wiederholt gepromptet und sehr gute Ergebnisse erreicht.
Welche Szenarien gab es noch?
Glock: Wir haben 160 unterschiedliche Code of Conducts betrachtet und uns anhand von 36 Fragen angeschaut, wo es Abweichungen gibt. Bei zehn Durchläufen hat es fünfmal gut funktioniert. Aber bei den nächsten Malen kamen Fehler oder Abweichungen auf. Auf Basis dieser Erkenntnis mussten wir schauen: Liegt es an den Fragen oder am häufigen Prompten? Hat das System dazugelernt, weil wir so oft dasselbe gepostet haben? Diese Fragen haben wir genau untersucht.
Roth: Dabei hat das technische Know-how von Plan B geholfen. Wir haben schnell herausgefunden, dass wir zum Beispiel die Fragen nicht auf einmal stellen dürfen, sondern nacheinander. Dann bleiben die Antworten gleich.
Was kann das System besonders gut?
Roth: Vorbereitende Tätigkeiten. Es ist kein Tool, das uns eine hundertprozentige Lösung liefert und einen Rechtsanwalt ersetzen kann. Aber es kann zum Beispiel eine Mitschrift aus einem Meeting zusammenfassen und anschließend eine Liste mit den nächsten To Dos und das Mandantenschreiben mit Aufgaben für den Mandanten anfertigen. Das hätte ohne KI wahrscheinlich zwei Stunden gedauert, so sind es zehn Minuten. Das ist die Superpower, die KI hat: die Effizienzsteigerung bei vorbereitenden Tätigkeiten.
Glock: Wir wollten wissen, welche Anwendungsfälle es bei KPMG Law gibt. Wir haben mit dem Bereich Arbeitsrecht als Piloten angefangen und danach alle Bereiche von KPMG Law befragt. Aus diesen Gesprächen haben sich mehr als 100 Potenziale ergeben. Etwa 90% davon sind generative KI-Use-Cases, die wir strukturiert nach und nach umsetzen. Das wichtigste Wort, das in den Gesprächen fiel, war „niedrigschwellig“. Die Kolleginnen und Kollegen wollten keine große KI-Lösung, sondern niedrigschwellige Angebote.
Herr Roth erwähnte, dass es keinen Rechtsanwalt ersetzen kann. Könnten andere Positionen obsolet werden?
Glock: Ich glaube nicht, dass einzelne Aufgabenbereiche in näherer Zukunft obsolet werden. Bestimmte Tätigkeiten werden aber mit Sicherheit schneller und einfacher.
Was ändert sich bei den Anwälten?
Jacob: Ich verwende gern den Ausdruck „bionischer Anwalt“. Man bekommt durch die Generative KI ein mächtiges Hilfsmittel, das in die Arbeitsabläufe integriert wird. Nun müssen sich Anwältinnen und Anwälte neue Fähigkeiten aneignen, indem sie zum Beispiel prompten lernen und sich mit den Unterschieden zwischen verschiedenen Sprachmodellen vertraut machen. Deswegen haben wir uns im Reallabor auch mit Llama, der KI des Facebook-Betreibers Meta, und dem Heidelberger Modell Aleph Alpha befasst. Es gibt noch viele Hausaufgaben, um Informationen strukturiert vorzuhalten und das passende Sprachmodell zu finden.
Glock: Das Berufsbild wird sich jetzt auch schrittweise ändern. Das Thema Research wird viel schneller gehen, aber man wird sich stärker aufs Einordnen und die Überprüfung fokussieren müssen. Man braucht eine gewisse anwaltliche und Subsumtionserfahrung, um diese Informationen einzuordnen. Den „KI-Superanwalt“, der alles automatisiert macht, wird es in absehbarer Zeit nicht geben. Aber zum Beispiel beim Contract Lifecycle Management ist denkbar, dass ein Bot prüft, wie viele Verträge in diesem Monat gekündigt und wie viele Zahlungen geleistet werden müssen. Oder in wie vielen Verträgen eine Haftungsklausel vorliegt, unterschieden nach einfacher oder grober Fahrlässigkeit.
Jacob: Das ist in der juristischen Arbeit nicht anders als in anderen Bereichen: Die Menschen müssen sich weiterbilden und die technischen Weiterentwicklungen aktiv nutzen.
Die meisten Modelle stammen aus den USA. Wie stellen Sie sicher, dass es keinen kulturellen Bias gibt?
Glock: Responsible AI ist ein großes Thema. Wir haben hier ein mächtiges Tool und müssen genau überlegen, wie wir es nutzen. Der AI Act der EU sieht vor, dass wir von allen Anwendungen, in denen KI eine Rolle spielt, Register anlegen. Das wird irgendwann jede genutzte Anwendung sein; es wird keine mehr ohne KI geben. Wichtig ist, dass der Mensch die Führung in allen Projekten behält. Wir sensibilisieren unsere Kolleginnen und Kollegen dafür, dass sich der Review-Prozess ändert. Wir alle dürfen nicht einfach auf die Ergebnisse vertrauen, sondern müssen die Kontrollinstanz bilden, die Qualitätssicherung. Auch wenn wir ein KI-Tool nutzen, unsere anwaltliche Verantwortung bleibt.
Wie sehen Sie die Zukunft der Konvergenz von Recht und Technologie?
Jacob: Nehmen wir dieses bionische Element, das vorhin erwähnt wurde: Nun habe ich ein Exoskelett, mit dem ich stärker werde und größere Lasten tragen kann. Wir empfehlen allen Teams, diese Tools jeden Tag zu nutzen. Bevor sie etwas in Excel bauen, sollen sie es mit KI versuchen. Derzeit kommen 80% der Legal-Tech-Lösungen nicht beim Nutzer an, weil den meisten Menschen der bekannte Weg effektiver erscheint. Das wollen wir ändern. Wir wollen nicht Wahrscheinlichkeiten für Antworten erhöhen, sondern auf das vorhandene Fachwissen zugreifen können und dieses Wissen kuratiert zur Verfügung stellen.
Roth: Unser Ziel ist, möglichst zeitnah die KI für Fragestellungen wie diese zu nutzen: Bitte erstelle mir ein Gutachten zur Geschäftsführerhaftung unter Berücksichtigung, dass eine Bestechung vorlag, vergleichbar mit Fällen, die wir bereits behandelt haben. Und beachte auch, dass das Unternehmen eine AG ist. Das wollen wir mit unseren eigenen Daten, E-Mails, Gutachten, Verträgen, Templates verknüpfen, um mit der generativen KI auf Informationen zuzugreifen. Dazu braucht es ein vorzügliches Know-how-Management.
Das ist ein enormer Aufwand. Wie gehen Sie da vor?
Glock: Bei Verträgen und Templates sind wir schon gut aufgestellt. Bei den E-Mails hängt das von den Cases ab, die wir jetzt priorisieren. Das ist ein fortlaufender Prozess, der jetzt schrittweise zur lebenslangen Aufgabe wird.
Jacob: Wir fragen uns, wird es irgendwann ein Legal Large Language Model geben? Brauchen wir ein solches Strukturelement? Was wir uns vorstellen können, ist, dass eine neutrale Stelle die frei verfügbaren Daten strukturiert für alle bereitstellt. Heute informieren wir uns über verschiedene Datenbanken, etwa Beck, Juris oder die des Bundes. Jeder Anbieter hat ein eigenes Datenmodell. Es wäre ein großer Schritt, wenn alle frei verfügbaren Daten, also etwa Entscheidungen der obersten Bundesgerichte und Gesetzestexte, aber auch kuratierte Daten aus den Verlagen, standardisiert und strukturiert abgelegt wären. Wenn diese Informationen als Plugin oder über eine API zur Verfügung stehen würden, wäre das der nächste große Schritt für die zielgerichtete Nutzung von generativer KI.
Das Interview führte Franz Công Bùi.