ESM und Fiskalpakt auf Messers Schneide
Von Stephan Lorz, FrankfurtGanz Europa blickt am Dienstag nach Karlsruhe. Im Anschluss an eine öffentliche Anhörung wird das Bundesverfassungsgericht entscheiden, ob der auf EU-Ebene beschlossene Fiskalpakt und der Europäische Stabilitätsmechanismus (ESM) verfassungsgemäß sind und den Klagen auf eine einstweilige Anordnung stattgegeben wird. Sollten die Richter Zweifel äußern, könnten die entsprechenden Gesetze vorerst nicht in Kraft treten, was an den Finanzmärkten große Verwerfungen nach sich ziehen würde. Denn dann wäre die bisherige Krisenstrategie gescheitert, über Rettungsfonds und Bürgschaften der fiskalisch stabileren Länder die Krisenstaaten zu unterstützen und das Heil in einer stärkeren europäischen Integration zu suchen. Womöglich wäre das sogar der Anfang vom Ende der Eurozone.Dieser Umstand ist natürlich auch dem Verfassungsgerichtspräsidenten Andreas Voßkuhle klar und setzt ihn und seine Kollegen gehörig unter Druck. Denn nach ihren eigenen Maßstäben, müssten sie die Gesetze zum Fiskalpakt und zum ESM eigentlich für verfassungswidrig erklären. Hatten sie doch in den jüngsten Entscheidungen vor dem Hintergrund der Euro-Krise darauf hingewiesen, dass die parlamentarischen Rechte nicht verletzt werden dürfen, und zuletzt sogar verfügt, die Mitbestimmung des Bundestages hinsichtlich des Rettungsfonds EFSF zu erweitern. Außerdem haben sie auch betont, dass unter keinen Umständen unkalkulierbare Fiskalrisiken eingegangen werden dürfen, welche die Selbstbestimmung Deutschlands auf Dauer einschränkt.In der Entscheidung zur Finanzhilfe für Griechenland und der Struktur des EFSF vom September 2011 heißt es: “Der Deutsche Bundestag darf seine Budgetverantwortung nicht durch unbestimmte haushaltspolitische Ermächtigungen auf andere Akteure übertragen.” Zudem wird darauf hingewiesen, dass auch die Gesamtschau der Einzelentscheidungen nicht zu unüberschaubaren haushaltsbedeutsamen Belastungen führen dürfen ohne vorherige konstitutive Zustimmung. Und weiter heißt es: “Es dürfen keine dauerhaften völkervertragsrechtlichen Mechanismen begründet werden, die auf eine Haftungsübernahme für Willensentscheidungen anderer Staaten hinauslaufen, vor allem wenn sie mit schwer kalkulierbaren Folgewirkungen verbunden sind. Jede ausgabenwirksame solidarische Hilfsmaßnahme des Bundes größeren Umfangs im internationalen oder unionalen Bereich muss vom Bundestag im Einzelnen bewilligt werden.”Gerade das geschieht aber ganz offensichtlich durch den ESM. Der Fiskalpakt enthält keine Kündigungsklausel, weshalb selbst eine Zwei-Drittel-Mehrheit im Bundestag die europäische Schuldenbremse nicht außer Kraft setzen könnte. Ob dies sinnvoll wäre, ist eine andere Frage. Und auch beim ESM ist der Rettungsmechanismus so konstruiert, dass seine Gremien über Milliardenhilfen entscheiden können, ohne dass der Bundestag darauf Einfluss nehmen kann. Ausdrücklich wird der ESM-Gouverneursrat zudem jeglicher Haftung und parlamentarischen Kontrolle entzogen. Und fällt ein Staat als Geberland aus, wird die Last auf die schrumpfende Zahl der restlichen fiskalisch stabilen Länder aufgeteilt, wogegen sich die deutschen Parlamentarier nicht wehren können. Ein Automatismus droht.Die am Donnerstag vom Bundesverfassungsgericht vorgelegte Verhandlungsgliederung signalisiert denn auch, dass den Richtern ihre Zwangslage sehr klar vor Augen ist, sie aber gleichwohl die Kernfragen im Zusammenhang mit Fiskalpakt und ESM direkt ansprechen werden. So werden die europarechtliche Bindung der Gesetze, die Austritts- und Kündigungsmöglichkeiten ebenfalls hinterfragt wie die fiskalischen Automatismen, die Höhe der Finanzverpflichtungen, die Kumulation der Risiken und die Aufrechterhaltung der Konditionalität zwischen Finanzhilfen und Auflagen. Und schließlich wollen sie sich natürlich mit den zu erwartenden Marktreaktionen im Falle einer Untersagung der Gesetzesausfertigung beschäftigen.Fiskalpakt und ESM stehen also auf Messers Schneide. Ob die Verfassungsrichter die Gesetze in der vorliegenden Fassung durchgehen lassen werden, ist vor diesem Hintergrund zweifelhaft. Eher werden sie die Ausfertigung an weitere Zugeständnisse bzw. Korrekturen binden. Da auf dem jüngsten EU-Gipfel ohnehin Beschlüsse gefallen sind, die eine Gesetzesänderung notwendig machen, könnten diese ja in einem europäischen Ergänzungspaket untergebracht werden.