Wall Street sucht die Krisengewinner
Von Norbert Kuls, New YorkDie Quartalssaison an der Wall Street hat wie befürchtet mit Negativschlagzeilen begonnen. Angesichts der Coronakrise meldeten Großbanken zum Auftakt des Zahlenreigens drastische Gewinneinbußen – vor allem wegen erhöhter Risikovorsorge für potenzielle Kreditausfälle. Auch in der kommenden Woche dürfte es nicht an negativen Nachrichten mangeln.Unternehmen aus der besonders stark betroffenen Luftfahrtbranche wie der Flugzeughersteller Boeing oder die Airlines United und Delta dürften rote Zahlen veröffentlichen. Die Woche verspricht aber auch Linderung. Denn der erste Schwung der großen Technologie- und Internetwerte wird ebenfalls Quartalszahlen bekannt geben – darunter Titel, die noch im März die Erholung des S&P 500 angetrieben haben. Den Auftakt unter diesen Krisengewinnern macht am Dienstag nach Börsenschluss der Streaminganbieter Netflix, für den Analysten im ersten Quartal eine Verdoppelung des Gewinns je Aktie prognostizieren. Am Donnerstag folgen der Online-Einzelhändler Amazon und der Halbleiterkonzern Intel. Der Aktienkurs von Netflix kletterte im vergangenen Monat um mehr als 40 %, die Kurse von Amazon und Intel stiegen jeweils um mehr als 30 % – gut doppelt so stark wie der S&P 500, der sich im selben Zeitraum um knapp 17 % erholte. Der Aktienindex liegt in diesem Jahr allerdings weiterhin rund 14 % im Minus.Netflix und Amazon, die nun beide auf Rekordniveau notieren, profitieren von den Ausgangsbeschränkungen infolge der Pandemie. Leute schließen verstärkt Netflix-Abonnements ab, weil sie Filme nun zu Hause schauen wollen. Analysten rechnen zudem mit einer nachhaltigen Veränderung des Verbraucherverhaltens. “Selbst nach dem Ende der Krise werden die meisten Menschen es wahrscheinlich vermeiden, für einen neuen Film in voll besetzte Kinos zu gehen”, so Brian White, Analyst beim Wertpapierhaus Monness, Crespi, Hardt & Co.Amazon profitiert von den gestiegenen Online-Bestellungen, da traditionelle Warenhäuser wegen der Krise geschlossen sind. Amazon hat seit Mitte März 100 000 neue Mitarbeiter für die Verteilungszentren eingestellt und plant, 75 000 weitere Stellen zu besetzen. Die gestiegene Nachfrage nach Waren des täglichen Bedarfs stützt auch das Geschäft des Konsumgüterherstellers Procter & Gamble, der schon heute Eckdaten für das Quartal vorlegen will. Der Hersteller von Toilettenpapier (Charmin) und Seife (Ivory) wurde seinem Status als klassischer Defensivtitel gerecht. Der Aktienkurs hat sich mit einem Minus von 3 % in diesem Jahr besser entwickelt als der S&P 500. Es sind aber nicht nur Klopapier und Seife, die wegen der Krise auf Vorrat gekauft werden. Die Halbleiterbranche wird nach Einschätzung des Analysten Christopher Danely von der Citigroup von der Nachfrage von Firmenkunden gestützt, die eine Unterbrechung der Lieferketten fürchten. Intel dürfte kurzfristig auch von einem Anstieg der Nachfrage nach Laptop-Computern profitieren, da Studenten und viele Angestellte wegen der Ausgangsbeschränkungen von zu Hause arbeiten. Hinzu kommt steigende Nachfrage nach Chips für die Rechenzentren der Cloud. Cloud Computing, also die Bereitstellung von Rechnerkapazitäten für Unternehmen, die ihre Informationstechnik ins Internet verlagern, ist auch ein wichtiger Geschäftsbereich von Amazon.