"Abwarten ist keine Option"

Nach dem Absturz der Lira hebt die türkische Notenbank den Leitzins an

"Abwarten ist keine Option"

Die Krise der türkischen Lira verschärft sich. Marktakteure haben deshalb auf eine kräftige Anhebung der kurzfristigen Zinsen durch die Notenbank gedrängt. Dem ist die Zentralbank am Mittwochabend auch nachgekommen. Denn sollte eine Kapitalflucht einsetzen, wäre dies ein Desaster für das Land.Von Stefan Schaaf und Dieter Kuckelkorn, FrankfurtCommerzbank-Analyst Tatha Ghose hat im Hinblick auf Zinserhöhungen in der Türkei eine klare Meinung: “Abwarten ist keine Option.” Und sein Kollege Christian Maggio, der bei TD Securities in London die Schwellenländer-Analyse leitet, fordert, die türkische Notenbank “muss jetzt anheben”. Den Erwartungen der Marktteilnehmer ist die Notenbank am Mittwochabend nachgekommen. In einer außerordentlichen Sitzung haben die obersten Notenbanker des Landes den Leitzins von 13,5 % auf 16,5 % angehoben. Der Absturz der Landeswährung Lira hatte sich am Mittwoch unterdessen verschärft. Für einen Dollar mussten mit 4,9290 Lira so viel wie noch nie gezahlt werden. Seit Jahresbeginn hatte die türkische Währung somit laut Bloomberg-Daten gut 22 % ihres Wertes gegenüber der Weltleitwährung eingebüßt und war damit nahezu so schwach wie der argentinische Peso, der sich jüngst allerdings stabilisierte – unter anderem wegen der drastischen Anhebung der kurzfristigen Zinsen durch die Notenbank des südamerikanischen Landes. Am Mittwoch wurden für einen Euro bis zu 5,5608 Lira gezahlt. Damit büßte die Währung binnen rund drei Jahren die Hälfte ihres Wertes gegenüber dem Euro ein, womit die Kaufkraft der Menschen in der Türkei deutlich gesunken ist. Am Abend erholte sich die Währung nach dem Zinsschritt jedoch wieder auf 4,57 Lira je Dollar, ein Anstieg von 2,2 % gegenüber dem Stand vom Vortag. Die Währungskrise in der Türkei spiegelt sich auch an der steigenden Inflation wider, die jüngst erst wieder in den zweistelligen Bereich vorrückte. Im April stiegen die Verbraucherpreise um knapp 11 % und damit deutlich stärker als von der Notenbank angestrebt. Typischerweise erhöhen Notenbanken in solchen Situationen die Zinsen, um Kapitalabflüsse zu stoppen und die eigene Währung zu stabilisieren. In der Türkei blieb dies bis gestern aus, und Währungsanalysten zweifelten, dass die Notenbank diesen Kurs noch bis zur nächsten regulären Zinssitzung am 7. Juni durchhalten würde. 20 Prozent an Zinsen nötigDer Dollar-Lira-Kurs könnte im Fall einer anhaltenden Krise die Marke von 7 durchbrechen, so die Warnungen. Nach Berechnungen der Commerzbank müsste der kurzfristige Zins auf mindestens 20 % angehoben werden, um die Lira zu stabilisieren. “Eine nur geringfügige Anpassung würde die Lage spektakulär verschlechtern, weil sie beweisen würde, dass die Pessimisten Recht haben”, betont Ghose. Zwar liegt auch ein Teil der Ursachen für die schwache Lira außerhalb der Türkei, insbesondere im Anstieg der US-Renditen und der wachsenden Nervosität von Anlegern wegen diverser Krisenherde von Korea über Italien bis zum Brexit. Der Anstieg der zehnjährigen US-Rendite über die Marke von 3 % Ende April führte zu einer Abkehr von Anlegern aus Schwellenländern im Allgemeinen, traf aber insbesondere Länder mit internen Problemen wie Argentinien und die Türkei. In letzterem Fall spielen neben der Inflation und der Unwilligkeit zu Zinserhöhungen noch die Abhängigkeit des Landes von Kapitalzuflüssen und politische Risiken eine Rolle. So hat das Land nach Bloomberg-Berechnungen unter den 24 wichtigsten Schwellenländern die stärkste Belastung durch Auslandsschulden im Vergleich zur Wirtschaftsleistung. Die Verletzlichkeit der Türkei zeigt sich auch an dem jüngst auf 5,6 % angewachsenen Leistungsbilanzdefizit. Sollten Zuflüsse abreißen oder eine Kapitalflucht einsetzen, würde das Land sofort in eine Anpassungsrezession ähnlich wie Griechenland vor knapp zehn Jahren rutschen.Schon Ende April sprach der Internationale Währungsfonds (IWF) eine klare Warnung an die Türkei aus. Er bezeichnete in seiner jährlichen Artikel-IV-Konsultation “einen hohen externen Finanzierungsbedarf, begrenzte Devisenreserven, Veränderungen in der Stimmung der Investoren gegenüber den Schwellenländern und anhaltende inländische und geopolitische Risiken” als Herausforderungen. “Die Direktoren stellten fest, dass die Wirtschaft bisher widerstandsfähig war, und betonten, dass die makroökonomische Politik mit Blick auf die Zukunft darauf ausgerichtet sein sollte, die Ungleichgewichte zu beseitigen, die Inflation zu senken und die Puffer zu stärken. Darüber hinaus werden umfassende Strukturreformen erforderlich sein, um die Wachstumsaussichten der Türkei zu verbessern.” Erdogan will sinkende ZinsenEntsprechende Schritte zeichnen sich nicht ab und werden vor den Parlamentswahlen am 24. Juni nicht erwartet. Im Gegenteil: Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan forderte jüngst sogar – im Gegensatz zur ökonomischen Lehrmeinung und geldpolitischen Praxis – Zinssenkungen und meinte, dies würde die Inflation senken. Außerdem äußerte er, nach dem Umstieg von einer parlamentarischen Demokratie zu einem Präsidialsystem mehr Einfluss auf die Geldpolitik nehmen zu wollen. Der IWF hingegen mahnte eine konventionellen Geldpolitik an.