IM INTERVIEW: ANDREW SHEETS, MORGAN STANLEY

"Aktienmärkte haben Tiefs gesehen"

Stratege: Marktteilnehmer fokussieren sich auf Erholung im nächsten Jahr - Bondrenditen werden steigen

"Aktienmärkte haben Tiefs gesehen"

Andrew Sheets ist überzeugt, dass Risiko-Assets wie Aktien und Unternehmensanleihen das Schlimmste der Coronakrise bereits hinter sich haben. Der Chief Cross-Asset Strategist von Morgan Stanley erwartet zwar sehr schlimme Daten für das zweite Quartal. Jedoch geht er davon aus, dass sich die Marktteilnehmer zunehmend auf die Erholung einstellen. Herr Sheets, haben die Risiko-Assets Ihrer Einschätzung nach bereits ihre Tiefs gesehen, oder sind weitere Kursstürze zu befürchten?Nach unserer Meinung haben die Aktienmärkte ihre Tiefs gesehen und liegen auch die stärksten Ausweitungen der Credit Spreads hinter uns. Im März gab es die schlimmste ungeordnete Verkaufswelle und den stärksten Druck auf die Kurse. Die Umsätze an den Börsen sind in die Höhe gesprungen, und die Volatilität erreichte ungewöhnlich hohe Niveaus. Der Volatilitätsindex Vix stieg über die Höchststände der Finanzkrise. Ferner hat der Markt inzwischen größeres Vertrauen, dass der Hochpunkt der Virus-Ausbreitung in absehbarer Zeit erreicht werden könnte. Unsicher ist er sich noch über den Beginn der wirtschaftlichen Erholung sowie darüber, wie die Erholung ausfallen wird. Gemessen an den zurückliegenden fünf Rezessionen der USA, die jetzt das Zentrum des Ausbruchs sind, wäre es außerdem normal, dass der Markt, wenn der Tiefpunkt der ökonomischen Aktivität im Mai oder Juni erreicht wird, bereits im März sein Tief erreicht. Der Markt bewegt sich mit einem Vorlauf zu den ökonomischen Daten. Auf was für Daten müssen wir uns einstellen, etwa in den USA?Die Daten werden sehr schlimm ausfallen. Wir werden das schlechteste zweite Quartal aller Zeiten sehen. Nach unserer Einschätzung wird das Bruttoinlandsprodukt saisonbereinigt annualisiert um 38 % einbrechen. Für das Gesamtjahr erwarten wir einen Einbruch um 5,5 %, die Arbeitslosenrate wird auf 15 % hochschnellen. Was erwarten Sie von der Quartalsberichtssaison?Wir werden eine der interessantesten Berichtssaisons seit mindestens einem Jahrzehnt erleben. Der Januar war noch gut, anschließend wurde bereits die Guidance vieler Unternehmen gestrichen. Die Analysten wissen derzeit nicht, was sie prognostizieren können. Nach unserer Prognose werden die Gewinne je Aktie der S&P-500-Unternehmen in diesem Jahr um 20 % fallen und sich im nächsten Jahr um 20 % erholen. Der Markt schaut nach vorne und fokussiert sich auf die Erholung im nächsten Jahr. Er kommt zum Schluss, dass das Bewertungsargument für Aktien unverändert gegeben ist. Den S&P 500 erwarten wir zum Jahresende bei 3 000 Punkten, das heißt, er hat Aufwärtspotenzial, wenn auch kein besonders großes. Je mehr der Markt auf 2021 schaut, desto besser wird sich der Index entwickeln. Die Anleger hat bereits seit längerem die Sorge umgetrieben, dass der ungewöhnlich lange Aufschwung bald enden könnte. Hat der Virus-Ausbruch für ein früheres Ende des Aufschwungs gesorgt?Das Virus ist in der Tat der Katalysator für die Rezession, die wir jetzt sehen. Sie kam früher, als es ohne die Epidemie geschehen wäre. Auch dies entspricht früheren Mustern, wenn man etwa auf die beiden zurückliegenden Rezessionen schaut. Der Zustand der Wirtschaft vor dem Virus-Ausbruch hatte typische spätzyklische Charakteristiken wie etwa eine Inflation oberhalb des Fünfjahresdurchschnitts, eine niedrige Arbeitslosigkeit sowie Unternehmen, die sich auf Aktienrückkäufe und M&A-Transaktionen fokussieren. In einer spätzyklischen Phase wird nur ein Ereignis benötigt, um den Aufschwung zu beenden. Auch 2007 hatten wir etwa eine sehr hohe M&A-Aktivität und eine niedrige Arbeitslosigkeit. Dann kam die Subprime-Krise. In den Jahren 2000 und 2001 hatten wir ähnliche Elemente, ehe die Technologieblase platzte und dann noch die Terroranschläge vom 11. September folgten. Der Markt fokussiert sich in solchen Situationen stark auf die Ereignisse wie die Subprime-Krise oder den Virusausbruch, und die Tatsache, dass es zu solchen Ereignissen am Ende langer Aufschwungphasen kam, erklärt die starken Auswirkungen, die die Ereignisse auf die Märkte haben. Was erwarten Sie in diesem Umfeld für die Anleihemärkte?Unternehmensanleihen werden von einer Kombination von Faktoren getrieben und haben in puncto Spread-Ausweitungen das Schlimmste hinter sich. Zu erwähnen sind zum einen die aggressiven Aktionen der EZB. Zum anderen sind die Unternehmen nicht mehr so aggressiv, vor allem in Europa. Viele Unternehmen streichen ihre Dividenden. Das ist gut für die Anleiheinvestoren, nicht für die Aktionäre. Die Renditen der Staatsanleihen werden steigen. Zum einen wird sich der Markt auf die wirtschaftliche Erholung im kommenden Jahr fokussieren. Zum anderen haben die Regierungen nun sehr hohe Ausgaben und eine hohe Verschuldung. Wir erwarten in Europa die zehnjährigen Renditen Deutschlands und Großbritanniens bei 0 % und 1,20 %. Für Treasuries rechnen wir mit einem Anstieg auf 0,80 %. 2021 werden die Renditen angesichts der sich erholenden wirtschaftlichen Nachfrage und des enormen US-Defizits weiter steigen. Was bedeutet das aktuelle Umfeld für den Dollar?Der Dollar wird schwächer. Die Fed macht so viel mehr in Sachen QE als andere Zentralbanken, rund viermal so viel wie die EZB. Die US-Notenbank will die Finanzkonditionen lockern. Ferner hat der Dollar einen Teil seines Renditevorteils verloren. Die Viruskrise zeigt darüber hinaus, dass die USA, was das Gesundheitssystem betrifft, einen Rückstand auf andere entwickelte Volkswirtschaften haben. Sie werden den Hochpunkt des Ausbruchs später erreichen als andere Länder. Die Ölpreise sind zuletzt extrem stark unter Druck geraten. Wie sehen hier Ihre Erwartungen aus?Wir erwarten eine größere Stabilität der Ölpreise ab dem dritten Quartal. Ab dann wird größere Klarheit darüber bestehen, dass das Tief des globalen Wachstums hinter uns liegt. Wir erwarten für das kommende Jahr höhere Ölpreise. Unsere Rohstoffanalysten prognostizieren für die Sorte Brent einen durchschnittlichen Preis im niedrigen 40-Dollar-Bereich. Das Interview führte Christopher Kalbhenn.