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Anleger blicken auf Parteikongress in China

Börsen-Zeitung, 18.10.2017 Diese Woche tritt Chinas Führung zum 19. Parteikongress zusammen. Alle fünf Jahre tagt das Plenum, das die Spitzenfunktionäre der Kommunistischen Partei ernennt und die wirtschaftlichen und politischen Prioritäten...

Anleger blicken auf Parteikongress in China

Diese Woche tritt Chinas Führung zum 19. Parteikongress zusammen. Alle fünf Jahre tagt das Plenum, das die Spitzenfunktionäre der Kommunistischen Partei ernennt und die wirtschaftlichen und politischen Prioritäten formuliert. Viele Beobachter glauben, dass dieser Kongress einen wichtigen Wendepunkt in der chinesischen Politik markieren wird. Das wird er nicht. Präsident Xi Jinping wird einige politische Ämter besetzen, um seine Macht als Parteichef zu konsolidieren. Tatsache ist jedoch: Der Kongress ist nur politisches Theater. Der künftige Kurs des Landes China wird anderswo abgesteckt. Undurchsichtiges SystemDie Anziehungskraft des Parteikongresses mag niemanden verwundern, scheint er doch seltene Einblicke in die inneren Mechanismen des undurchsichtigen politischen Systems in China zu gewähren. Gleichwohl ist der Kongress kein politisches Diskussionsforum, sondern in erster Linie eine Inszenierung der Kommunistischen Partei. Wer darauf hofft, dass hier mutige und potenziell revolutionäre Reformen der verkrusteten Strukturen in den chinesischen Staatsunternehmen angeschoben werden oder die aggressive Zügelung des enormen Kreditwachstums angekündigt wird, der sollte sich auf eine Enttäuschung gefasst machen.Konkrete politische Veränderungen sind eher von der zentralen Wirtschaftsarbeitskonferenz im Dezember, dem Nationalen Volkskongress im März oder dem dritten Plenum im kommenden Jahr zu erwarten. Das sind die Gremien, in denen um politische Details gerungen wird. Hier wird man voraussichtlich neue Reformschritte beschließen, die jedoch sehr behutsam und gemäßigt ausfallen werden.Entsprechend wird der Kongress wohl kein großes Kursfeuerwerk auslösen. Aber China ist für Investoren überall auf der Welt allein aufgrund der schieren Größe von Bedeutung, ganz gleich, ob sie dort investiert sind oder nicht. Nehmen wir nur den “Singles Day” – das chinesische Pendant zum Cyber Monday: Im vergangenen Jahr haben an diesem Tag die Konsumenten innerhalb von 24 Stunden einen Gegenwert von rund 20 Mrd. Dollar umgesetzt. Das ist mehr als das Bruttoinlandsprodukt von Island. Anleger sollten allerdings besser genau darauf achten, was in der chinesischen Wirtschaft selbst und in diesem Zusammenhang auch in der Welt passiert, als auf jede Wendung und jeden Hinweis des Kongresses zu achten. Daten werden angezweifeltWer verstehen will, wohin sich China entwickelt, muss die Wirtschaft genauer unter die Lupe nehmen. Die offiziellen Wachstumsdaten des Landes werden weithin angezweifelt. Dass sie die Zielvorgaben immer haargenau erfüllen, ist vielen nicht ganz geheuer. Der aktuelle Richtwert von 6,5 % pro Jahr liegt über den plausiblen Schätzungen der langfristigen nachhaltigen Wachstumsrate und könnte (oder sollte vermutlich) gesenkt werden – vielleicht eher auf 6 %. Unter anderem deshalb haben wir eine “Nowcast”-Prognose zum chinesischen Wachstum erstellt, die eine Vielzahl aktueller Datenreihen auswertet. Sie zeigt: Nach der Flaute von 2015 war der Wachstumstrend im vergangenen Jahr sehr robust. Zuletzt war China sogar die wichtigste Triebfeder des globalen Aufschwungs. Neuerdings hat sich unser Nowcast-Wert allerdings abgeschwächt, wenn auch von einem sehr hohen Ausgangsniveau. Die viel beachteten Messgrößen der wirtschaftlichen Aktivität in China wie etwa Industrieproduktion, Anlageinvestitionen und Einzelhandelsumsätze scheinen ebenfalls nachzulassen. Geldpolitische RevolutionDie politischen Entscheidungsträger haben die chinesische Wirtschaft in den vergangenen Jahren konsequent angekurbelt, sobald sie sich abkühlte – und das mussten sie öfter, als ihnen lieb war. Jetzt mehren sich die Zweifel an der Schuldenlast und finanziellen Stabilität des Landes. Messwerte wie der “Nowcast” können viel darüber aussagen, inwieweit die Behörden bereit sind, die Wirtschaft sich selbst zu überlassen. Im Auge behalten sollten Investoren auch die chinesische Zentralbank, wo sich eine stille geldpolitische Revolution vollzieht. Bisher legte die die People’s Bank of China (PBoC) anhand der Mindestreserven konkrete Kreditquoten für einzelne Banken sowie eine systemweite Kreditquote fest. Da die Wirtschaft in den vergangenen Jahren jedoch gereift ist, verfolgt die PBoC mittlerweile den eher orthodoxen Ansatz, das Wachstum und die Inflation durch festgelegte Zinssätze zu kontrollieren. Aufgrund des verhaltenen Inflationsdrucks wird die Zentralbank die Zinsen in den nächsten Jahren wahrscheinlich stabil halten. Mindestreservesatz gesenktEine Zinssenkung zur Konjunkturförderung wäre jedoch ein Indiz dafür, dass sich die chinesische Führung wieder auf alte Zeiten besinnt, in denen jedes Mal nachgeholfen wurde, wenn das Wachstum nachließ. Die kürzliche Senkung der Mindestreservesätze für diejenigen Banken, die am häufigsten Kredite an kleine Unternehmen und den Agrarsektor vergeben, wirkt eher wie eine Maßnahme zur Unterstützung des Reformprozesses als ein Versuch, dem Wachstum auf die Sprünge zu helfen.Seit 25 Jahren ist China ein Land mit mittlerem Einkommen. Viele Länder kommen nicht über dieses Niveau hinaus, weil die Wettbewerbsfähigkeit ihrer Löhne sinkt und das Wachstum nachlässt. Die nächsten fünf Jahre werden darüber entscheiden, ob sich China aus dieser “mittleren Einkommensfalle” befreien kann. Die Chancen dafür stehen nicht schlecht, auch wenn der demografische Wandel nicht gerade hilfreich ist. Die politische Inszenierung des 19. Parteikongresses wird indes keinen Aufschluss darüber geben, wie Chinas politische Führung das bewerkstelligen wird.—-Paul Diggle, Senior Economist, Aberdeen Standard Investments