TECHNISCHE ANALYSE

Ausbrüche, so weit das Auge reicht

Von Jörg Scherer *) Börsen-Zeitung, 13.11.2019 Bis zum Jahresultimo sind zwar noch einige Handelstage zu bestreiten, doch das Aktienjahr 2019 dürfte als ein sehr gutes in die Börsengeschichte eingehen. Kurszuwächse von mehr als 20 % -...

Ausbrüche, so weit das Auge reicht

Von Jörg Scherer *)Bis zum Jahresultimo sind zwar noch einige Handelstage zu bestreiten, doch das Aktienjahr 2019 dürfte als ein sehr gutes in die Börsengeschichte eingehen. Kurszuwächse von mehr als 20 % – beispielsweise beim S&P 500 und beim Dax – sind stille Zeugen des konstruktiven Jahresverlaufs. Aus charttechnischer Sicht manifestiert sich diese Entwicklung in einer Vielzahl von Ausbrüchen auf der Oberseite. Damit stellt sich die Frage, was Anleger von den letzten Wochen des laufenden Jahres beziehungsweise vom Aktienjahrgang 2020 zu erwarten haben? Trefferquote von 90 ProzentDie absolute Basisannahme der technischen Analyse, wonach sich einmal etablierte Trends fortsetzen werden, wählen wir als Ausgangspunkt zur Beantwortung der Frage. Stärke zieht in der Regel weitere Stärke nach sich. Um diesen “Markenkern” der technischen Analyse kritisch zu überprüfen, untersuchen wir regelmäßig sogenannte “bedingte Wahrscheinlichkeiten”. Wie realistisch sind weitere Kurszuwächse nach einem ohnehin schon freundlichen Aktienjahr? In diesem Kontext haben wir auf Basis der gesamten Datenhistorie seit 1897 untersucht, was Anleger vom Dow Jones in den letzten beiden Monaten des Jahres erwarten können, wenn die amerikanischen Standardwerte zuvor bis Ende Oktober bereits um mehr als 15 % gestiegen sind. Unter dieser Vorbedingung kam es seit 1897 lediglich dreimal zu Kursverlusten. In 29 Jahren realisierte der Dow in den letzten beiden Monaten des Jahres dagegen weitere Anschlussgewinne. Neben der Trefferquote von über 90 % ist der durchschnittliche Kurszuwachs von 4,7 % bemerkenswert. Beide Kennziffern stellen die Pendants der Jahre, in denen der Dow bis Oktober um weniger als 15 % zulegen konnte (+1,23 % bei 63 % Trefferquote), deutlich in den Schatten. Solide MarktbreiteAls mögliche Erklärungsansätze für diese Anomalie können Anleger das Verharrungsverhalten etablierter Trends, den Leidensdruck von (bisher) nicht investierten Investoren oder schlicht und einfach Window-Dressing-Effekte seitens großer institutioneller Anleger heranziehen. Börsianer sollten also das Aktienjahr 2019 nicht zu früh zu den Akten legen und die Performance in den letzten beiden Monaten nicht unterschätzen. Die skizzierte Erwartungshaltung harmoniert bestens mit einer Vielzahl von technischen Ausbrüchen auf der Oberseite. Die Gefahr von “false breaks” wird dabei durch die solide Marktbreite reduziert. Diese Aussage ist vermutlich sogar zu schwach, denn der älteste Marktbreiteindikator überhaupt, die Advance-/Decline-Linie, strebt von einem Hoch zum nächsten. Der Saldo aus gestiegenen und gefallenen Aktien für alle an der Nyse notierten Papiere bestätigt also die jüngsten Rekordstände beim S&P 500 sowie beim Dow Jones (3 098 beziehungsweise 27 775 Punkte), indem die Mehrzahl der Aktien den laufenden Aufschwung nach wie vor trägt. A-/D-Linie auf neuen Hochs Ein besonderes Schlaglicht möchten wir auf die Marktbreite für die europäischen Aktienmärkte legen. Der A-/D-Linie für den Stoxx Europe 600 gelangen im Jahresverlauf 2019 ebenfalls in schöner Regelmäßigkeit neue Hochstände. Warnsignale oder gar Störfeuer seitens der Marktbreite lassen sich auch hierzulande in keiner Weise erkennen. Der Unterschied im Vergleich zur Situation jenseits des Atlantiks liegt darin, dass der Stoxx Europe 600 im Gegensatz zu den US-Auswahlindizes noch nicht auf neuen Rekordniveaus notiert. Der Stärkebeweis durch die Advance-/Decline-Linie liefert also möglicherweise einen früheren Hinweis darauf, dass sich Anleger bei den europäischen Standardwerten auf einen Ausbruch nach Norden vorbereiten sollten! Der ultimative DeckelDie wichtigste Botschaft vorweg: Ein neues Allzeithoch beim Stoxx Europe 600 käme einem ganz großen charttechnischen Befreiungsschlag gleich, denn seit 20 Jahren sind die europäischen Blue Chips in einer Schiebezone zwischen 160 Punkten auf der Unter- und gut 400 Punkten auf der Oberseite gefangen. In schöner Regelmäßigkeit hat die Marktteilnehmer seit Beginn des Jahrtausends also zwischen 401 und 415 Punkten der Mut verlassen. Ein Sprung über diese Hürden bedeutet sogar einen dreifachen Ausbruch! Schließlich wäre im Erfolgsfall nicht nur der beschriebene Deckel gelüftet, sondern ein neues Allzeithoch sorgt dann zudem für eines der besten Signale der technischen Analyse überhaupt. Einen Fingerzeig in diese Richtung liefert der dritte Ausbruch nach Norden, denn die gesamte Kursaktivität seit dem bisherigen Allzeithoch von April 2015 bei 415 Punkten kann als klassische Dreiecksformation interpretiert werden, deren kalkulatorisches Anschlusspotenzial sich auf rund 100 Punkte taxieren lässt. Als Vorbote eines erfolgreichen Ausbruchs können Anleger diverse Sektorcharts werten. So sind eine Reihe von Branchenbarometern mit neuen Rekordständen bereits einen Schritt weiter (beispielsweise Chemie, Construction & Materials, Industrial Goods & Services etc.). In der Summe verfügt der Stoxx Europe 600 aktuell über eines der spannendsten Kursbilder überhaupt und stellt einen der absoluten Schlüsselcharts für das Jahr 2020 dar. *) Jörg Scherer ist Leiter Technische Analyse bei HSBC Deutschland.