Aussichten für Emerging Markets langfristig intakt
Viele Anleger unterschätzen, wie deutlich sich die Schwellenländermärkte in den vergangenen Jahrzehnten gewandelt haben. Das Aktienuniversum wird nicht mehr wie zu Zeiten des „BRIC-Wunders“ (BRIC als Akronym für Brasilien, Russland, Indien und China) von Energie-, Rohstoff- und verarbeitenden Exportunternehmen dominiert. Vielmehr findet sich in Schwellenländern eine wachsende Zahl erstklassiger, innovativer Unternehmen, etwa aus den Bereichen IT und Gesundheit. Diese profitieren von strukturellen Trends wie steigenden Konsumausgaben im Inland oder dem Aufkommen der Plattformökonomie. Als unser Team für Emerging-Markets-Aktien 2008 entstand, waren noch zwei Drittel des Anlageuniversums durch zyklisches Wachstum und ein Drittel durch strukturelles Wachstum definiert. Seitdem hat sich das Verhältnis fast umgekehrt.
Auch reagieren Schwellenländer nicht mehr so stark auf globale Konjunktur- und Marktsignale wie 2013 beim „Taper Tantrum“, als die US-Notenbank eine Straffung ihrer Geldpolitik ankündigte. Ganz im Gegenteil: Inzwischen haben die meisten Emerging Markets einen Leistungsbilanzüberschuss. Berücksichtigt man darüber hinaus die Vertiefung der lokalen Schuldenmärkte und die ausländischen Direktinvestitionsströme, so hat sich die Anfälligkeit der Schwellenländer im Vergleich zu früher drastisch verringert.
Nach einem optimistischen Start ins Jahr 2021 haben sich die mittelfristigen Aussichten für Schwellenländer relativiert. Die durch die Pandemie ausgelöste Unsicherheit ist unverändert hoch und gefährdet das Wachstum. Zudem wird die weitere politische Unterstützung in Emerging Markets wohl geringer ausfallen. Denn die umfangreichen geld- und finanzpolitischen Maßnahmen im Jahr 2020 haben die Leitzinsen auf historische Tiefstände sinken und die Staatsschulden massiv anschwellen lassen.
Hinzu kommt eine steigende Gesamtinflation, wenngleich diese ein vorübergehendes Phänomen darstellen sollte. Die politisch Verantwortlichen könnten sich zu einer allmählichen geldpolitischen Straffung gezwungen sehen, um einen adäquaten Realzins-Puffer aufrechtzuerhalten, die Inflationserwartungen zu verankern und eine Währungsabwertung sowie massive Kapitalabflüsse zu verhindern. Die Betroffenen werden in den kommenden Monaten vor einem schwierigen Balanceakt stehen.
Infolgedessen erwarten wir, dass sich die Perspektiven für Schwellenländer künftig stärker auseinanderentwickeln dürften. Dabei werden die Länder, die mit schwächeren Fundamentaldaten in die Krise gegangen sind, vermutlich auch diejenigen sein, die bei einer länger andauernden Corona-Pandemie weiter unter Druck geraten.
Unabhängig vom aktuellen Marktumfeld bleibt der langfristige Trend für das Wachstum von Schwellenländern jedoch weiterhin intakt: der Übergang vom exportgetragenen Wachstum zu einem, das von einer lebhaften Binnennachfrage getragen wird. Wesentlicher Treiber dieses Trends ist die wachsende Mittelschicht. Diese dürfte einer Studie des Brookings Institute zufolge allein in China bis 2027 auf 1,2 Milliarden Menschen anwachsen – das ist ein Viertel der Mittelschicht weltweit. Diese anhaltende Verschiebung kurbelt die Binnennachfrage nach Waren und Dienstleistungen an, die zu einem beträchtlichen Teil von schnell wachsenden heimischen Unternehmen gestillt werden dürfte.
Fokus auf Inlandsnachfrage
In Anbetracht dieser Entwicklung sind aus Anlegersicht vor allem Unternehmen mit Fokus auf der inländischen Nachfrage interessant. Wir sehen beträchtliche Chancen in den Sektoren Nichtbasiskonsumgüter, IT und Kommunikationsdienste. Denn die entsprechenden Unternehmen entwickeln Produkte und Dienstleistungen, die veränderten Kundenbedürfnissen gerecht werden oder diese gar neu definieren.
Strukturelles Wachstum in Schwellenländern bleibt die Hauptchance für Anleger. Aber in dem Maße und Tempo, wie sich einzelne Emerging Markets und Branchen von der Corona-Pandemie erholen, entstehen auch zyklische Chancen. Entscheidend ist dabei, die starke Auseinanderentwicklung der einzelnen Länder zu bedenken.
Die Berücksichtigung von Umwelt- und sozialen Kriterien sowie Aspekten der Unternehmensführung (auf Englisch: Environmental, Social und Governance – kurz ESG) kann hilfreich sein, um aussichtsreiche Unternehmen zu identifizieren. In den Schwellenländern stecken Nachhaltigkeitsaspekte vielerorts noch in den Kinderschuhen. Dies dürfte über die nächsten Jahre hinweg zu einer enormen Reallokation von Anlagegeldern führen. Dabei sollten insbesondere Unternehmen mit starken ESG-Profilen Kapital anziehen, was zu niedrigeren Finanzierungskosten führen würde. Unternehmen mit schlechteren ESG-Profilen dürften hingegen weniger Kapital erhalten, und ihre Finanzierungskosten könnten demzufolge steigen.
Insgesamt gewichten viele Anleger Schwellenländeraktien nach wie vor unter, dabei spricht immer mehr für eine Investition in diese Anlageklasse. Denn es gibt in Emerging Markets immer mehr Unternehmen mit starken, aktionärsfreundlichen Managementteams und der Fähigkeit, Wachstum aus eigener Kraft zu finanzieren und zugleich ihre Kapitalrenditen zu steigern. Insbesondere strukturelle Themen können langfristig vielversprechende Anlagechancen bieten. Die Weiterentwicklung des Marktes sowohl in der Tiefe als auch in der Qualität des Anlageuniversums bietet ein ideales Feld für eine aktive, researchbasierte Auswahl von Einzelwerten, um langfristige Mehrrenditen zu erwirtschaften.