Brasiliens Aktienmarkt im Sinkflug
Von Andreas Fink, Buenos Aires
Die Anleger haben deutlich ihre Ernüchterung über die fiskalpolitischen Entscheidungen der Regierung und des sich darob stark verschlechternden Geschäftsklimas manifestiert. Der Bovespa-Index lag am Mittwochnachmittag bei 105719 Zählern und hat damit seit seinem Rekordhoch vom Juni (131190 Punkte) 19,4% verloren. Seit dem Krisenjahr 2014 hat Brasiliens Börse keine solche Talfahrt erlebt. Und auch die Landeswährung Real lag mit 5,65 zum Dollar am 2. November nahe ihrem historischen Tiefstand vom Pandemie-Monat Mai 2020.
Den deutlichsten Absturz vollzogen die Märkte, nachdem Wirtschafts- und Finanzminister Paulo Guedes am 20. Oktober die Umgehung eines in der Verfassung verankerten Ausgabendeckels angekündigt hatte. So will die Regierung Bolsonaro bald fällige Schulden bezahlen – und vor allem im Wahljahr 2022 ein seit den Zeiten der linken Regierung von Lula da Silva bestehendes Bargeldtransfersystem für die Armen des Landes deutlich ausbauen.
Schon seit Monaten war vermutet worden, dass der rechtspopulistische Präsident Bolsonaro mit einem Ausbau von Transferleistungen vor den Wahlen seine zuletzt erheblich gesunkene Zustimmung wieder erhöhen will. Derzeit liegt er bei Werten von knapp über 20%. Der Staatschef muss im Falle einer Abwahl mit mehreren strafrechtlichen Anklagen rechnen.
Bolsonaro hatte sein erratischer Umgang mit der Corona-Pandemie, die mehr als 600000 Menschenleben forderte, deutlich geschadet. Zudem konnte die Regierung während der dramatischen zweiten Coronawelle in der ersten Jahreshälfte 2021 längst nicht mehr so hohe Nothilfegelder auszahlen wie im ersten Pandemiejahr 2020. Zudem hat ein massiver Teuerungsschub das Land erfasst. Das jüngste Focus Bulletin, das die wöchentlichen Prognosen von mehr als 100 brasilianischen Finanzinstituten zusammenfasst, geht von einem allgemeinen Preisauftrieb von 8,45% aus. Bei Logistik und Lebensmitteln hat die Inflation längst zweistellige Werte erreicht.
Dass Brasilien nun nach Venezuela und Argentinien den höchsten Preisauftrieb der Region registriert, hat internationale und hausgemachte Ursachen. Die weltweite Nachfrage nach Lebensmitteln sowie die massiv gestiegenen Ölpreise haben die Inflation vor allem im Bereich von Logistik und Grundnahrungsmitteln angetrieben. Aber gleichzeitig hat eine seit zwei Jahren anhaltende Dürre die Lebensmittelproduktion getroffen und vor allem die Stromerzeugung massiv verteuert. Weil Brasilien nicht mehr wie üblich zwei Drittel seiner Energie aus Wasserkraft produzieren kann, muss es vor allem Gas importieren. Das treibt die Energiekosten massiv an.
Angesichts der Teuerung sah sich die Zentralbank vorige Woche zu ihrem größten Zinsschritt seit 2014 gezwungen. Um 150 Basispunkte erhöhte der Währungsausschuss Copom den Leitzins Selic, der – noch im März auf dem historischen Tiefstand von 2% – inzwischen bei 7,75% angekommen ist. Und die Notenbank hat weitere Erhöhungen angekündigt, die meisten Ökonomen kalkulieren mit einem Zinssatz von 11% zu Jahresende. Aber selbst das dürfte nicht der Höchstwert bleiben. Wie brasilianische Medien melden, preisen Futures für 2023 einen Leitzins von 14% ein. Das entspräche den Höchstständen während der turbulenten letzten zwei Jahre der 2016 ihres Amtes enthobenen Präsidentin Dilma Rousseff.
Nach deren Sturz und dem Ausscheiden der linken Arbeiterpartei aus der Regierung hatte das Parlament den Ausgabendeckel in die Verfassung geschrieben. Während 20 Jahren sollten staatliche Ausgaben nur im Rahmen der allgemeinen Teuerung ansteigen dürfen. Diese Regel war eine von zwei Rückversicherungen für in- und ausländische Anleger. Die zweite Sicherheit war der Minister Paulo Guedes, der stets die Interessen des Marktes vertreten hatte. Doch nun war es ausgerechnet der „Chicago Boy“, der die Umgehung des Ausgabendeckels ankündigte. Das bewirkte zunächst die Rücktritte von vier wirtschaftsfreundlichen Spitzenbeamten und dann heftige Turbulenzen an den Finanzmärkten. Dass der Superminister für Finanzen und Wirtschaft diesen Kurswechsel mittragen und im Amt aussitzen will, erklären brasilianische Kommentatoren auch mit Guedes’ Verwicklung in den Pandora-Papers-Skandal. Die dort aufgetauchten Dokumente belasten ihn ebenso massiv wie den heutigen Zentralbankdirektor Roberto Campos Neto. Wäre Guedes zurückgetreten, hätte er alsbald die Finanzfahnder am Hals. Wie sein Chef Bolsonaro muss er die Wahl im kommenden Jahr gewinnen.
Aufschwung erlahmt
Doch selbst wenn diese Strategie an den Urnen Früchte tragen sollte – was momentan sehr zweifelhaft ist angesichts von Bolsonaros deutlichem Umfragerückstand gegenüber dem linken Ex-Präsidenten Lula –, dürfte Brasiliens wirtschaftliche und fiskalische Entwicklung davon schwerlich profitieren. Denn sie trifft Südamerikas größte Volkswirtschaft inmitten erheblicher konjunktureller Probleme. Der anfangs schwungvolle Start aus der Pandemie ist erlahmt, vorige Woche hat die Großbank Itaú erstmals gar ein Negativwachstum von 0,5% für 2022 prognostiziert.
Vor diesem Hintergrund wird die geplante Auszahlung der „Brasilien-Hilfe“ an eine noch nicht klar definierte Anzahl von Bedürftigen zu einer massiven Belastung der Staatskassen, und das, obwohl deren öffentliche Verschuldungsrate schon im März 2021 bei über 90% des BIP lag. Aber dabei dürfte es kaum bleiben, denn die steigende Inflation und die steigenden Zinssätze könnten Kosten in Höhe von etwa 360 Mrd. Real (ca. 60 Mrd. Euro) pro Jahr verursachen, errechnete die Beratungsfirma Renascença. Deren Chefökonom Sergio Goldenstein sagte der Wirtschaftszeitung „Valor Economics“: „Den höheren Zinssatz werden wir auch mit einer schwächeren Aktivität und einem geschwächten Arbeitsmarkt bezahlen.“ Etwa 14% der Brasilianer sind derzeit ohne Arbeit. Zudem droht eine massenhafte Auszahlung von Sozialhilfe die Inflation weiter anzufachen. Nicht wenige warnen vor einem Teufelskreis. Darum bleiben die Finanzmärkte extrem reserviert. Ein Run auf Brasilien-Aktien hat trotz der erheblichen Kursrückgänge noch nicht eingesetzt.