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Brisante Umstellung auf neue Zinsbenchmarks

Von Dietegen Müller, Frankfurt Börsen-Zeitung, 29.11.2018 Es ist ein heißes Eisen, über das meist nur in Expertenkreisen diskutiert wird und das am liebsten niemand gerne anfassen will: Die Ablösung von manipulationsanfälligen Referenzzinssätzen...

Brisante Umstellung auf neue Zinsbenchmarks

Von Dietegen Müller, FrankfurtEs ist ein heißes Eisen, über das meist nur in Expertenkreisen diskutiert wird und das am liebsten niemand gerne anfassen will: Die Ablösung von manipulationsanfälligen Referenzzinssätzen wie Libor oder Euribor stellt die Finanzindustrie in der Eurozone vor einen Kraftakt. Denn es steht beispielsweise noch nicht fest, welcher Alternativsatz in der Eurozone Euribor ablösen soll.Das dafür zuständige European Money Markets Institute (Emmi) arbeitet an der Reform des Euribor, doch ob eine Hybrid-Variante davon als geeignet eingestuft wird, um der Regulierung zu entsprechen, ist noch offen. Im zweiten Quartal 2019 will Emmi einen entsprechenden Antrag bei der dafür zuständigen belgischen Finanzmarktaufsicht FSMA einreichen. Doch die Uhr tickt vernehmbar. Laut aktueller Regulierung müssten relevante Benchmarks spätestens ab 2020 schärfere Regulierungsvorgaben erfüllen, die Verwendung des Euribor und allgemein bestehender Ibors (Interbank offered Rates) wäre nicht mehr erlaubt. Steigender ZeitdruckDer steigende Zeitdruck ist für alle Beteiligten ein Problem. Referenzzinssätze sind in Immobilien- und Konsortialkrediten, Zinsswaps, Anleihen und vielen anderen Kontrakten essenziell. Am Euribor hängen 109 Bill. Euro Derivatkontrakte und rund 1,6 Bill. Euro Schuldverschreibungen, am Übernachtsatz Eonia (Euro OverNight Index Average), der ebenfalls abgelöst werden muss, rund 22 Bill. Euro Derivatkontrakte. Es müssten also Millionen von Produktverträgen angepasst werden.In Bankenkreisen ist zu hören, dass daraus Rechtsrisiken befürchtet werden. So könnten etwa Kunden sich übervorteilt fühlen, wenn vom einen auf einen anderen Referenzzins gewechselt wird, der womöglich ungünstigere Konditionen bietet.Dies soll zwar nach dem Willen der Aufseher und von Brüssel nicht passieren, ist aber nicht auszuschließen. Gerade in sehr langlaufenden Verträgen kann eine Änderung von wenigen Basispunkten erhebliche Unterschiede ausmachen. “Es besteht das Risiko, dass ein falscher Satz vereinbart wird”, heißt es etwa. Und Carlos Molinas von Crédit Agricole fragt: “Kann ein Legacy-Satz, der nicht mehr rechtskonform ist, für die Bewertung von Legacy-Positionen verwendet werden?” Eine Arbeitsgruppe bei der Europäischen Zentralbank (EZB), der Molinas angehört und die sich mit dem Übergang auf einen neuen risikofreien Referenzzinssatz befasst, will im Dezember und in den nächsten Monaten schrittweise Empfehlungen vorlegen, wie die Umstellung angegangen werden soll.Hinzu kommt, dass in den Bankbilanzen Bewertungseffekte auftauchen dürften. Dies liegt in der Natur der Sache. Die als neuer Übernacht-Satz empfohlene, unbesicherte Euro Short Term Rate (Ester), von der Europäischen Zentralbank publiziert, weist einige Basispunkte Unterschied zum Eonia auf. Eonia ist eine “Lending Rate”, Ester aber eine “Borro- wing Rate”. Eine Lending Rate bezeichnet einen Satz, zu dem Banken Kunden Kredite ausleihen, eine Borrowing Rate spiegelt, was Banken für Einlagen zahlen. Der Eonia beziehungsweise Ester ist für die Europäische Zentralbank deswegen sehr bedeutend, weil es der erste Referenzpunkt ist, an dem die Übertragung geldpolitischer Maßnahmen erkennbar ist, wie Jaap Kes, Head of Money Market bei ING, sagt.Für die Banken ist noch unklar, wie mit bestehenden Geschäften umgegangen werden muss. Sind sie abzuwickeln und neu abzuschließen? Reicht eine Änderung auf Papier oder müssen tatsächlich womöglich bewertungsrelevante Transaktionen bei der Umstellung gemacht werden, verbunden mit erheblichem Abwicklungsaufwand? Bankenverband schweigtDazu ist in Deutschland erstaunlich wenig zu erfahren. Der Bundesverband deutscher Banken äußert sich auf Anfrage dazu nicht. Die in der Deutschen Kreditwirtschaft (DK) zusammengeschlossenen deutschen Bankenverbände sagen dazu nur, das Thema “eng zu begleiten”. Ein offenes Geheimnis ist, dass viele Marktteilnehmer eine Übergangsfrist für die ab Anfang 2020 voll greifende Benchmark-Regulierung begrüßen würden. Dies würde den Instituten helfen, ihre IT-Systeme für die Umstellung vorzubereiten und sie möglichst reibungsfrei zu schaffen. In Diskussion ist die Einführung einer Übergangsfrist im Zusammenhang mit einem Vorschlag zur Reform von Low-Carbon-Benchmarks, der noch vor den Europawahlen verabschiedet werden soll.In einem EZB-Workshop hat Tilman Lüder, Head of Securities Markets von der Europäischen Kommission, bereits angedeutet, dass eine Übergangsfrist ein Thema ist: “Wir sind involviert, wenn es Probleme mit der Konsequenz von Rechtssetzungen gibt.” Es brauche eine Anpassungsphase, Eonia soll nicht über Nacht verschwinden, fügte er hinzu. Es könnte eine “Koexistenz von zwei Zinssätzen über eine bedeutende Zeit” geben, sagt Lüder. Terminkurve noch zu bauenDabei steht ein weiteres brisantes Thema im Raum: Die Aufnahme der neuen Referenzsätze in den Derivatemarkt beinhalte komplexe Fragen und Anpassungen auf der Clearing- und Gegenparteiseite, so Lüder. Dieser Punkt ist wichtig, weil sich im Markt erst noch eine Terminkurve auf den neuen Zinssätzen entwickeln muss. Doch da Ester erst ab Oktober 2019 von der EZB täglich berechnet wird und für Euribor noch keine Fallback-Rate feststeht, bestehen Zweifel, ob dies auch zeitnah gelingt.Marcel Naas, Managing Director bei Eurex Repo, weist darauf hin, dass in den zur Verfügung stehenden Daten des unbesicherten EZB-Satzes Ester die Zeit der Finanzmarktkrise nicht reflektiert sei, da keine besicherten Transaktionen im Index reflektiert würden. Die zur Deutschen Börse zählende Eurex Repo betreibt den besicherten Geldmarkthandel GC Pooling, auf dem Transaktionen anonym über Eurex Clearing verrechnet werden können. Auf GC Pooling basiert die vom Indexanbieter Stoxx berechnete besicherte Stoxx GC Pooling EUR Deferred Funding Rate, die in der Vergangenheit eine enge Korrelation zu Eonia und Ester gezeigt hat, wie Naas sagt. Weil der Spread des GC-Pooling-Satzes gegenüber Eonia geringer sei als jener von Ester, wäre ein Wechsel darauf für den Markt insgesamt mit weniger Kosten verbunden, sagt Naas. Zudem biete sich dieser Satz “als ideale Fallback-Rate zum unbesicherten Ester an”.In einer EZB-Marktbefragung war Ester von 88 % der 66 Befragten als Alternative zu Eonia gewählt worden, GC Pooling erreichte knapp 10 % der Stimmen. Jeweils zum Quartals- und Jahresende kam es in der GC-Pooling-Rate zu größeren Ausschlägen, was von Eurex auf die zeitweise geringe Menge verfügbarer Sicherheiten im Markt angesichts des EZB-Anleihekaufprogramms zurückgeführt wurde. Die Ausschläge seien dabei nur unwesentlich größer als bei Eonia und Ester gewesen.