"Cable" rutscht vor May-Rede ab

Aussicht auf kompletten Abschied von EU-Binnenmarkt und Zollunion verschreckt Marktakteure

"Cable" rutscht vor May-Rede ab

Vor der heutigen Brexit-Rede der britischen Premierministerin Theresa May wächst am Devisenmarkt die Nervosität. Die Aussicht auf eine komplette Abkehr der Briten vom EU-Binnenmarkt hat das Pfund auf den tiefsten Stand seit Oktober gedrückt.Von Stefan Schaaf, FrankfurtDie britische Premierministerin Theresa May will am heutigen Dienstag ihre Strategie für den Austritt aus der Europäischen Union in einer Rede darlegen. Bis Ende März soll dann der Austritt, auch Brexit genannt, nach Artikel 50 des EU-Vertrages von Lissabon erklärt werden. Schon vor der Rede steckte die britische Regierung ihre Positionen offenbar britischen Medien. Laut der “Sunday Times” strebt die Regierung in London nicht nur eine Abkehr vom Binnenmarkt – und damit von der Personenfreizügigkeit – an, sondern auch einen Austritt aus der EU-Zollunion, um bilaterale Handelsverträge schließen zu können. Gestern bezeichnete eine Regierungssprecherin dies jedoch als Spekulation – dementierte es jedoch auch nicht.Außerdem werden jüngste Aussagen des britischen Finanzministers Philip Hammond ebenfalls als Hinweis auf einen harten Brexit gedeutet. Hammond hatte in einem Interview Steuersenkungen angedeutet, um die britische Wirtschaft im Vergleich zur EU wettbewerbsfähiger zu machen. “Offener hat wohl noch nie ein britischer Politiker der EU mit einem Handelskrieg gedroht”, kommentierte Commerzbank-Analyst Lutz Karpowitz. So billig wie beim Flash CrashDas Pfund sackte im asiatischen Handel zum Wochenauftakt bis auf 1,1987 Dollar ab und war damit so billig wie zuletzt am 6. Oktober, als es zu einem Flash Crash in dem “Cable” genannten Kurs kam. Die Marke von 1,20 Dollar, die dem Reuters-Konsens zum Jahresende entspricht, gilt als wichtige Marke. Die jüngste Pfund-Schwäche spiegelt allerdings auch die breite Aufwertung des Dollar in Erwartung steigender US-Zinsen wider.Aber auch zum Euro steht die britische Währung unter Druck. Seit dem Brexit-Votum hat der Euro 15 % an Wert gegenüber dem Pfund gewonnen. Dies macht die britische Exportwirtschaft zwar wettbewerbsfähiger, bedeutet für die Bürger des Vereinigten Königreichs jedoch einen erhebliche Einbuße an Kaufkraft. Gestern mussten sie bis zu 88,56 Pence für einen Euro zahlen, im späten Geschäft notierte dieser dann 0,7 % fester mit 87,95 Pence.Nach Einschätzung von Kathleen Brooks, Analystin bei Cityindex, entwickelt das Pfund zunehmend eine Eigendynamik, weil sich viele Marktteilnehmer laut jüngsten Daten für einen fallenden Kurs positioniert haben. Es könne jetzt ein Punkt erreicht sein, an dem Schlagzeilen zu einem “harten Brexit” großen Einfluss haben könnten. “Fällt Mays Rede wirklich so aus wie derzeit von den Medien berichtet und von Hammond angedeutet, hat man sich wohl in London aufgrund der Unnachgiebigkeit der EU von einem weichen Brexit verabschiedet”, stellte Karpowitz fest. Allerdings gibt es am Markt auch Spekulationen, dass die Regierung in London angesichts der starken Short-Positionierung mit “schlechten” Nachrichten gezielt das Pfund zum Wochenauftakt gedrückt habe. Kalkulierter Short Squeeze?Das Kalkül: Wenn May in ihrer Rede heute nur ansatzweise ein klein wenig vom “harten Brexit” abrückt, könnte es zu Eindeckungskäufen, einem sogenannten Short Squeeze, kommen. Dann würde das Pfund steigen und May den relativ harten Brexit als Erfolg am Finanzmarkt “verkaufen” können.Sollte sich die Abwertung des Pfund aber verschärfen und damit die Finanzstabilität Großbritanniens gefährdet sein, so könnte dies mit Zinserhöhungen, Kapitalverkehrskontrollen oder Interventionen am Währungsmarkt bekämpft werden. Die Volkswirte von BNY Mellon haben vor diesem Hintergrund die Frage gestellt, ob das Vereinigte Königreich ausreichend Mittel für Interventionen besitzt. Die Währungsreserven inklusive Gold, Sonderziehungsrechten und IWF-Reservepositionen von 161,7 Mrd. Dollar von Ende November – nach 174 Mrd. Dollar im Juli – seien “mehr als ausreichend”. Allerdings gelte es auch zu bedenken, dass in anderen Fällen höhere Summen keinen Erfolg gezeigt hätten. So habe die Bank of Japan im Herbst 2011 innerhalb weniger Tage umgerechnet 115 Mrd. Dollar für Interventionen ausgegeben. Oder die russischen Währungsreserven seien zwischen Anfang 2014 und Mitte 2015 von 500 auf 350 Mrd. Dollar abgesackt, ohne dass dies den Rubel stabilisiert habe. Im Jahr 1992 war die Bank of England nicht in der Lage, einen spekulativen Angriff auf das Pfund abzuwehren. Deutlich unterbewertetUnterstützung könnte der Pfund-Kurs allerdings von der Bewertungsseite her erhalten. Nach der starken Abwertung infolge des Brexit-Votums im Juni 2016 ist die britische Währung nach Berechnungen der Deutschen Bank eine der am stärksten unterbewerteten Währungen im Universum der zehn wichtigsten Industrieländerwährungen.Das von dem Institut verwendete Modell für einen verhaltensökonomischen Gleichgewichtswechselkurs signalisierte im Dezember eine Unterbewertung des Pfund von rund 15 %. Der US-Dollar ist in diesem Modell rund 8 % überbewertet, während der Euro rund 6 % und die schwedische Krone rund 12 % unterbewertet ist.