Corona-Mittel verlockt zu Wetten auf Gilead
Von Dieter Kuckelkorn, FrankfurtDer amerikanische Pharmakonzern Gilead Sciences gehört zu den großen Gewinnern der Coronakrise. Die Aktie hat seit Jahresanfang rund 19 % an Wert gewonnen. Wer sich den Chart ansieht, dem fällt auf, dass es praktisch keine Auswirkungen der Krise gibt – abgesehen von einer deutlich höheren Volatilität des Aktienkurses. Dies liegt daran, dass es das Management von Gilead Sciences geschafft hat, sich im Rahmen der Krise mit einem Medikament gut in Szene zu setzen, das angeblich gegen Covid-19 helfen soll. So verzeichnete der Kurs beispielsweise am 29. April einen Sprung um fast 6 %. Der führende US-Virenforscher Dr. Anthony Fauci, Direktor des National Institute of Allergy and Infectious Diseases (NIAID) und Krisenberater von US-Präsident Donald Trump, hatte an diesem Tag öffentlich verkündet, das Gilead-Medikament Remdesivir habe einen “eindeutigen und signifikanten positiven Effekt der Verkürzung der Zeit bis zur Erholung” von der Krankheit. Werbung von TrumpScott Gottlieb, Commissioner der Food and Drug Administration, twitterte dann, Remdesivir sei “der Beginn der Entwicklung eines besseren Werkzeugkastens” gegen Covid-19. Und Trump gewährte bei einem öffentlichen Auftritt in werbewirksamer Anwesenheit des Gilead-CEO Dan O’Day eine Ausnahmegenehmigung für den Einsatz des Medikaments im Rahmen von Notfallmaßnahmen. Remdesivir ist damit in den USA das bisher einzige Medikament, dass gegen die neue Seuche offiziell zumindest provisorisch zugelassen ist.Die Europäische Arzneimittelbehörde EMA hat daraufhin ebenfalls ihre Empfehlungen für den begrenzten Einsatz des Medikaments ausgeweitet. Es bleibt aber anzumerken, dass Remdesivir bislang noch in keinem einzigen Land eine reguläre Zulassung als Medikament hat. Zweifel an der WirkungEs wäre wohl falsch, als Anleger kurzfristige Kaufentscheidungen für die Aktie allein auf Remdesivir zu basieren. Denn es gibt immer wieder berechtigte Zweifel an der Wirksamkeit des Mittels. So verweist beispielsweise die zuständige Morningstar-Analystin Karen Andersen darauf, der Anstieg des Aktienkurses basiere auf unkontrollierten Studien, die nur einen “trüben Blick” auf die Effektivität des Medikaments zuließen. Zudem warf die “Financial Times” dem Konzern am 23. April vor, die negativen Ergebnisse einer ersten methodisch korrekten Studie über einen Monat lang zurückgehalten zu haben. Die Studie in zehn Krankenhäusern in der chinesischen Provinz Hubei musste hinsichtlich Remdesivir wegen starker Nebenwirkungen abgebrochen werden.Zudem brach das NIAID eine weitere Studie namens ACTT-1 ab, nachdem sich keine statistisch signifikante Verbesserung gegenüber der Gabe von Placebos feststellen ließ. Allerdings war die Zeitspanne bis zur Entlassung der Patienten aus dem Krankenhaus mit Remdesivir um vier Tage kürzer als mit einem Placebo. Offenbar war die Reduzierung der Virenbelastung im Körper, die ein antivirales Medikament wie Remdesivir ja erreichen sollte, kein Teil der Studie. Zumindest wurden bislang keine Ergebnisse in dieser Richtung veröffentlicht. Demgegenüber gibt es andere, erfolgversprechendere Medikamente gegen Covid-19, wie etwa das kubanische Interferon-Mittel Alfa-2B.Remdesivir war bereits als Medikament gegen Ebola angepriesen worden und hatte schon dabei versagt: Gemäß einer methodisch sauberen Studie, die in vier Städten in der Demokratischen Republik Kongo im Rahmen des dortigen Ebola-Ausbruchs im vergangenen Jahr vorgenommen worden war, führten andere Medikamente zu einer deutlich niedrigeren Mortalität als Remdesivir. Unsichere PerspektiveAnleger sollten also auch ihre Entscheidung für ein längerfristiges Engagement in der Gilead-Aktie nicht von den Aussichten dieses einen Medikaments abhängig machen, dessen Aussichten äußerst unsicher sind. Denn sollte es Forschern gelingen, einen Impfstoff gegen das Coronavirus zu entwickeln, würde Remdesivir kaum noch benötigt – selbst in dem unwahrscheinlichen Fall, dass es sich doch noch als hochwirksam erweisen sollte.Andererseits ist Gilead nach Meinung der Analysten von Morningstar ein diversifizierter Pharmakonzern mit einer hohen Marktkapitalisierung von rund 98 Mrd. Dollar, der sein Geld hauptsächlich auf anderen Gebieten verdient. Das Kernportfolio des Konzerns mit Jahreserlösen (2019) von 22,3 Mrd. Dollar und einem Nettokonzerngewinn von 5,4 Mrd. Dollar sind Therapien gegen HIV sowie die Leberentzündungen Hepatitis B und C. Durch Übernahmen expandierte der Konzern zudem in die Bereiche der Atemwegs-, Lungen-, Herz- und Krebserkrankungen. Nach Einschätzung von Morning-star bietet das Unternehmen “glänzende Gewinnmargen”. Der Patentschutz auf neuere HIV-Behandlungen sowie die anhaltende Dominanz des Konzerns im Hepatitis-C-Markt würden für die nächsten Jahrzehnte starke Renditen gewährleisten, prognostiziert das Analysehaus. Da die Nachfrage nach dem Hepatitis-C-Blockbuster Sovaldi nachlasse, baue sich der Konzern eine Pipeline jenseits von HIV und Hepatitis C auf. Die Erlöse sind in der Tat bereits zwischen 2017 und 2019 wegen der Probleme mit den Flagship-Produkten gegen Hepatitis C um rund 14 % gesunken. Der Nettogewinn ist zwar gleichzeitig von 4,6 Mrd. Dollar im Jahr 2017 auf die genannten 5,4 Mrd. Dollar im Jahr 2019 gestiegen, was aber im Wesentlichen auf eine gesunkene Steuerbelastung zurückzuführen ist. Die Bewertung der Aktie ist mit einem Kurs-Gewinn-Verhältnis auf Basis der Prognosen für die kommenden zwölf Monate von 18,5 nicht übertrieben. Analysten skeptischDie Analystengemeinde ist allerdings mit Blick auf die jüngsten Kursgewinne im Licht der zweifelhaften Perspektiven für Remdesivir skeptisch. Gemäß den Daten von Factset raten nur neun Banken zum Kauf der Aktien. 17 Anlageexperten stufen den Titel mit “Hold” ein und vier empfehlen den Verkauf. Das durchschnittliche Kursziel auf 12-Monats-Basis liegt bei 79,43 Dollar und damit unter dem aktuellen Niveau von rund 77 Dollar.