GASTBEITRAG

Demografische Herausforderungen erfordern neues wirtschaftliches Denken

Börsen-Zeitung, 7.2.2017 An den Kapitalmärkten war in den letzten beiden Monaten ein deutlicher Stimmungswandel festzustellen. Die Sorgen über eine langfristige Stagnation und Deflation ließen nach, und Anleger wandten sich wieder risikoreichen...

Demografische Herausforderungen erfordern neues wirtschaftliches Denken

An den Kapitalmärkten war in den letzten beiden Monaten ein deutlicher Stimmungswandel festzustellen. Die Sorgen über eine langfristige Stagnation und Deflation ließen nach, und Anleger wandten sich wieder risikoreichen Anlagen zu. Viele Wirtschaftsexperten haben ihre Schätzungen des globalen Wirtschaftswachstums nach oben korrigiert, besonders für die USA, wo im Zuge der Einlösung von Präsident Trumps Wahlversprechen mit einer Lockerung der geldpolitischen Zügel gerechnet wird. Während in Volkswirtschaften wie den USA und Großbritannien, in denen die Arbeitslosigkeit niedrig und der Konsum robust ist, eine deutliche kurzfristige Dynamik zu verzeichnen ist, gibt es weiterhin langfristige Entwicklungen, die Anleger bei ihren Anlageentscheidungen berücksichtigen sollten. Eine dieser Entwicklungen ist eine Verlagerung des Schwerpunkts der Wirtschaftspolitik angesichts des demografischen Wandels. Im Gegensatz zu wirtschaftlichen Variablen sind demografische Entwicklungen vorhersehbar und haben einen großen Einfluss auf uns alle. Wendepunkt überschrittenDie Weltwirtschaft hat jetzt einen entscheidenden Wendepunkt überschritten. Zum ersten Mal seit Beginn der geschichtlichen Aufzeichnungen ist die Anzahl der Kinder unter fünf Jahren nicht mehr größer als die der Erwachsenen ab 65 Jahren. Im Hinblick auf die Anzahl der Kinder haben wir also den Höchststand überschritten.Schätzungen der Vereinten Nationen zufolge wird die Alterung der Bevölkerung weltweit zunehmen, und bis 2050 werden über 15 % der weltweiten Bevölkerung über 65 Jahre alt sein. Wirtschaftsexperten weisen oft auf die Herausforderungen hin, mit denen Japan aufgrund seiner alternden Gesellschaft konfrontiert ist; bis 2050 werden die meisten G7-Länder ebenso wie China, Brasilien und Russland ein ähnliches demografisches Profil haben wie Japan heute. Das Langlebigkeitsrisiko, also das Risiko, dass die Menschen länger als erwartet leben, könnte einen enormen Druck auf unsere derzeitigen Rentensysteme ausüben. Aus Analysen der Bank of America Merrill Lynch geht hervor, dass die alterungsbedingten Ausgaben bereits 40 % der Staatsausgaben in den Industrieländern ausmachen und in den USA sogar 55 %. Durch die steigenden Gesundheitskosten könnten 60 % der Staatsanleihen der Industrieländer bis 2050 unterhalb von Investment Grade bewertet werden, falls entscheidende politische Maßnahmen ausbleiben.Um den Herausforderungen einer alternden Gesellschaft zu begegnen, müssen wir länger arbeiten und über politische Ansätze und Initiativen nachdenken, die den Menschen Anreize bieten, über das traditionelle Rentenalter hinaus zu arbeiten. Wenn diese Probleme nicht angegangen werden, könnte die Erhöhung der Altersabhängigkeitsquotienten weitreichende Auswirkungen auf die öffentlichen Finanzen, auf die Produktivitätsraten und die Ungleichheit haben. Außerdem müssen wir unsere Vorstellung von wirtschaftlichem Erfolg überdenken.Alternde Bevölkerungen stellen einen riesigen Erfolg für die Wissenschaft dar, da medizinische Fortschritte die durchschnittliche Lebenserwartung um Jahrzehnte verlängert haben. Sie stellen auch eine große Herausforderung für die politisch Verantwortlichen dar, und unser Wirtschaftsmodell muss an diesen demografischen Wandel angepasst werden.Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) wird von Politikern und Wirtschaftsexperten als Maßstab verwendet, um den relativen Erfolg der Wirtschaftspolitik weltweit zu vergleichen. Die Verwendung des BIP als Maßstab für den wirtschaftlichen Erfolg ist jedoch irreführend. Wenn wir nach Japan blicken (eine Volkswirtschaft, die eine hohe öffentliche Schuldenquote, eine Reduzierung des Verschuldungsgrads bei den privaten Unternehmen und im Staatshaushalt, Deflationsdruck und eine alternde Bevölkerung verzeichnete), stellen wir fest, dass das BIP darauf schließen lässt, dass das Land wirtschaftlich gegenüber den anderen G7-Ländern im Rückstand ist. Japan stärker als geglaubtBetrachtet man jedoch das BIP nach der Anzahl der Menschen im erwerbsfähigen Alter (15 bis 64), stellt man fest, dass Japan seit 1990 die drittbeste Wirtschaftsleistung in den G7-Ländern erzielt. Daher ist die Wirtschaftsleistung Japans viel stärker als viele glauben. Die japanische Wirtschaft verzeichnete keine Jahrzehnte ohne Wachstum, sondern stabile Preise, eine geringe Arbeitslosigkeit und niedrige Zinssätze. Für den japanischen Durchschnittsbürger hat sich der Lebensstandard nicht verschlechtert, sondern sogar verbessert. Angesichts der Tatsache, dass die politische Agenda zunehmend von der Reform der Einwanderungspolitik bestimmt wird, sollten die politisch Verantwortlichen anerkennen, dass das Bruttoinlandsprodukt im Großen und Ganzen ein demografisches Profil widerspiegelt, bei dem immer mehr Arbeitskräfte ins Berufsleben einsteigen, die (falls alles nach Plan läuft) dann mehr als im Vorquartal produzieren, verdienen und konsumieren.Da die Zahl der Erwerbstätigen aufgrund der Alterung zurückgeht, ist natürlich das Gegenteil der Fall. Das bedeutet jedoch nicht unbedingt, dass eine Volkswirtschaft eine unterdurchschnittliche Leistung erzielt, wenn das Trendwachstum aufgrund einer geringeren Anzahl von Erwerbstätigen sinkt. Die sich ändernde demografische Entwicklung, die in den Industrieländern und einigen Schwellenländern derzeit zu beobachten ist, wird sich auf das globale BIP zunehmend negativ auswirken.Insbesondere China, das nach der Krise ein globaler Wachstumsmotor war, dürfte in den kommenden Jahren im Vergleich zu den historischen Wachstumsraten ein deutlich geringeres Wachstum verzeichnen. Künftig wird es für die politisch Verantwortlichen wichtig sein, bei der Messung des wirtschaftlichen Erfolgs nicht nur das BIP zu beachten, sondern auch alternative Messgrößen, die das wirtschaftliche Wohlergehen berücksichtigen.Natürlich hat die demografische Entwicklung weitreichende Auswirkungen auf die Finanzmärkte. Alternde Gesellschaften werden stärker sparen. Das wird Unternehmen zugutekommen, die Menschen dabei helfen, ihren Ruhestand zu planen, ihre Geldanlage darauf auszurichten und Vermögen aufzubauen. Festverzinsliche Wertpapiere und dividendenzahlende Aktien dürften in diesem Umfeld profitieren, da beide Anlageklassen regelmäßige Erträge ausschütten, die Ruheständler nutzen können. Darüber hinaus kann die strukturelle Nachfrage nach Anleihen mit längeren Laufzeiten von Versicherern und Pensionsfonds das künftige Wachstumspotenzial von Anleiherenditen begrenzen.Auch wenn es leicht ist, sich auf kurzfristige taktische Verschiebungen an den Märkten zu konzentrieren: Es bleibt immer wichtig, sich auf langfristige, nachhaltige Entwicklungen zu konzentrieren, welche die Volkswirtschaften, in denen wir leben, umgestalten. Ein höheres BIP-Wachstum ist nicht unbedingt die Lösung für das Problem einer alternden Bevölkerung. Privatpersonen, Unternehmen und Regierungen müssen sich diesen Herausforderungen stellen, und möglicherweise stellen wir fest, dass das Hauptaugenmerk künftig mehr der Generationengerechtigkeit und den Lebensstandards gilt, als dies in der Vergangenheit der Fall war.—-Anne Richards, Chief Executive M&G Investments