ANSICHTSSACHE

Der europäische Stromhandel als Pfeiler der Energiewende

Börsen-Zeitung, 19.9.2014 Teurer Ökostrom billig ins Ausland verscherbelt! Zu oft sind deutsche Medien auf diese schnelle Schlagzeile hereingefallen. Selbst in etablierten Sendern und Zeitungen wogt das Thema in völlig falsche Richtungen. Wer sich...

Der europäische Stromhandel als Pfeiler der Energiewende

Teurer Ökostrom billig ins Ausland verscherbelt! Zu oft sind deutsche Medien auf diese schnelle Schlagzeile hereingefallen. Selbst in etablierten Sendern und Zeitungen wogt das Thema in völlig falsche Richtungen. Wer sich jedoch eingehend mit dem Thema Energiewende und Stromhandel beschäftigt, den kann die Eindimensionalität dieser Aussage nur zur Weißglut treiben. Denn ohne einen regen Stromaustausch mit den Anrainerstaaten, ja ohne Europa wäre die deutsche Energiewende bereits heute gescheitert. Eine vermeintliche Rückbesinnung auf nationale Interessen ist falsch und schädlich – vor allem, wenn es um Energie geht. Schwankungen auffangen2013 deckte der Strom aus Erneuerbaren mehr als ein Viertel des deutschen Gesamtverbrauchs, Tendenz weiter steigend. Das hat das Stromsystem und auch den Handel mit dieser ohnehin volatilen Ware grundlegend verändert, denn die Stromproduktion aus Wind und Sonne schwankt stark und ist nicht steuerbar. Also müssen andere Erzeugungsquellen kurzfristig und auch über längere Zeiträume einspringen können, wenn sich Wind und Sonne nicht blicken lassen und wir dennoch Licht, Wärme und eine funktionierende Industrie brauchen.Und hier kommt dem grenzüberschreitenden Handel eine Hauptrolle zu. Durch den Stromaustausch mit anderen Ländern können die starken Schwankungen zu ökonomisch sinnvollen Preisen aufgefangen und geglättet werden. Dabei geht es nicht nur um “teuren Ökostrom”, dessen Grenzkosten de facto bei null liegen, da der Wind gratis weht. Teuer sind die Subventionen. Würden Überschüsse aus Wind und Sonne ohne Abnehmer durch die deutschen Netze mäandern, käme es zu überstarken Spannungsschwankungen und großflächigen Stromausfällen. Nicht nur für Privathaushalte wäre dies eine unbequeme Situation. Der wirtschaftliche Schaden für Deutschland wäre ungleich größer als der Wert jeglichen “verschenkten” Stroms.Europa ist deswegen die richtige Dimension für Energiefragen, gerade in Zeiten der Energiewende. Doch noch haben viele Politiker das nicht verinnerlicht. Wir brauchen eine enge, gemeinsame, grenzüberschreitende Energiepolitik, die nicht nur auf Deutschland schielt und ab Rhein und Oder, jenseits von Nord-, Ostsee oder den Alpen aufhört.Die Märkte haben sich der europäischen Logik bereits hingegeben – mit klarem Erfolg. Mehrere ehemals nationale Strombörsen haben sich zusammengeschlossen, darunter die EPEX SPOT als Strombörse für Deutschland, Frankreich, Österreich und die Schweiz, und betreiben nun auch eine Kopplung der Märkte untereinander. Diese erlaubt es den Stromhändlern, jeweils auf das für sie wirtschaftlich sinnvollste Gebot aller gekoppelten – also verbundenen – Märkte Zugriff zu erhalten, solange grenzüberschreitende Kapazitäten verfügbar sind, auch wenn sie Gebote “nur” auf ihrem nationalen Markt abgegeben haben. So werden auch, bevor neue Stromautobahnen gebaut werden, die bestehenden optimal ausgenutzt.Seit Mai 2014 sind auf diesem Wege die Strommärkte von Portugal bis Großbritannien, Österreich und Finnland gekoppelt. Sie stehen für rund drei Viertel des europäischen Stromverbrauchs. Strom wird also zwischen Lissabon und Helsinki ohne Grenzen gehandelt, und die Effizienzgewinne auch im Zuge der deutschen Energiewende betragen bereits jetzt Millionen von Euro.Die Vorteile sind nicht nur wirtschaftlicher Natur. Auch die Sicherheit des gesamten Stromsystems wird dadurch erhöht, denn Märkte zeigen durch Preise und Volumina auch an, wann angespannte Situationen entstehen. Durch die Marktkopplung wird auch diese Systemsicherheit grenzüberschreitend verbessert. Integrierter Markt existiertEin weiteres Nebenprodukt ist die Preiskonvergenz zwischen den Märkten – also die totale Angleichung von Preisen auf zwei Märkten. Nach dem Start der Marktkopplung konvergierten beispielsweise zwischen Deutschland und Frankreich im vergangenen Jahr die Strompreise an der Börse in rund 50 % der Zeit. Auch dies ist ein Anzeichen für einen funktionierenden Binnenmarkt: Der integrierte Strommarkt in Europa existiert also bereits.Der Ansturm der Erneuerbaren lässt sich demnach leichter lösen, sobald man europäisch denkt. Wir haben 2011 spezifische Kontrakte auf 15-Minuten-Basis für den flexiblen Handel mit Erneuerbaren erst einmal in Deutschland gestartet. Ergänzend zu den bisherigen Kontrakten, die stets eine bestimmte Strommenge für die Dauer einer Stunde zur Lieferung garantieren, ermöglichen 15-Minuten-Kontrakte den Ausgleich von Veränderungen in Erzeugung und Verbrauch auch innerhalb einer Stunde. Inzwischen sind die Kontrakte auch in der Schweiz zum Handel freigegeben, mit der Möglichkeit zum automatischen optimalen grenzüberschreitenden Handel mit Deutschland. Die Interaktion der beiden Märkte ist beachtlich: Mehr als 85 % der Transaktionen auf Schweizer Seite finden mit einem Handelspartner aus Deutschland statt. Es ist nur logisch, dass wir nun an einer Ausweitung in andere Länder arbeiten.Innovationen wie gekoppelte Märkte und 15-Minuten-Kontrakte, zu wesentlichen Teilen von privatwirtschaftlichen Unternehmen angestoßen und finanziert, schaffen einen Binnenmarkt für Strom, obwohl es nur Ansätze eines politischen Rahmens für eine europäische Energiepolitik gibt.Vielleicht nimmt sich die neue Europäische Kommission dem Thema stärker und auf die richtige Weise an. Anzeichen dafür gibt es, etwa der neu geschaffene Posten der Vizepräsidentin für die Energie-Union, bekleidet von Alenka Bratuýek. Ein Europa der Energie: Das wäre ein schönes Motto für die neue Amtszeit. Und ein besseres als die Mär vom “Verscherbeln des Ökostroms” ins Ausland.Jean-François Conil-Lacoste ist Vorstandsvorsitzender der Europäischen Strombörse EPEX SPOT.In dieser Rubrik veröffentlichen wir Kommentare von führenden Vertretern aus der Wirtschafts- und Finanzwelt, aus Politik und Wissenschaft.——–Von Jean-François Conil-LacosteDie Energiewende in Deutschland funktioniert nicht ohne einen regen Stromaustausch mit den Nachbarstaaten.——-