Im InterviewEhsan Khoman, MUFG

„Der Ölmarkt hat begonnen, geopolitische Risiken einzupreisen“

Der Ölmarkt hat in den vergangenen Monaten erhebliche Preisbewegungen gesehen. Aktuell löst der neue Nahost-Krieg Sorgen der Marktteilnehmer aus. Ehsan Khoman, Head of Commodities, ESG and Emerging Markets Research (EMEA) der japanischen Großbank MUFG, erläutert, was den Ölmarkt aktuell bewegt.

„Der Ölmarkt hat begonnen, geopolitische Risiken einzupreisen“

Im Interview: Ehsan Khoman

"Der Ölmarkt hat damit begonnen, geopolitische Risiken einzupreisen"

MUFG-Rohstoffexperte geht von knappem Angebot des
Energieträgers aus – Zu hohe Preise drücken aber die Nachfrage

Der Ölmarkt hat in den vergangenen Monaten erhebliche Preisbewegungen gesehen. Aktuell löst der neue Nahost-Krieg Sorgen der Marktteilnehmer aus. Ehsan Khoman, Head of Commodities, ESG and Emerging Markets Research (EMEA) der japanischen Großbank MUFG, erläutert, was den Ölmarkt aktuell bewegt.

Herr Khoman, der Brent-Ölpreis hat sich ausgehend von einem Niveau von zeitweise 72 Dollar im Sommer wieder deutlich erholt bis auf kurzzeitig fast 98 Dollar. Woran liegt das und was sind Ihre Erwartungen für die weitere Entwicklung des Ölpreises?

Nun, die Frage, ob wir die 100 Dollar beim Ölpreis sehen werden und ob der Ölpreis dann auf diesem Niveau bleiben wird, wird natürlich derzeit häufig gestellt. Die wichtigste Botschaft ist, dass wir uns in einem durch ein Defizit gekennzeichneten Markt befinden. Es hat einerseits zu wenig Investments in den Ölmarkt in den vergangenen Jahren gegeben, und auf der anderen Seite ist die Nachfrage derzeit sehr hoch. Diese Knappheit schlägt sich im Preis nieder, was natürlich wenig überraschend ist. Der kräftige Anstieg des Ölpreises bis auf ein Niveau von fast 100 Dollar war zu erwarten.

Aber der Preisverfall danach bis auf einen Tiefpunkt von kaum mehr als 84 Dollar hat wohl gezeigt, dass ein solches Niveau nicht nachhaltig ist?

Je höher der Ölpreis steigt, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit für einen Rückschlag. Dafür gibt es mehrere Gründe. Wenn wir uns beispielsweise den Index der relativen Stärke (RSI) im Durchschnitt von 14 Tagen vor dem erfolgten Preisrückgang ansehen, so konnten wir ein Niveau von mehr als 70 feststellen. Das zeigte an, dass eine Korrektur nach unten überfällig war. Die technischen Indikatoren demonstrierten, dass der Markt überhitzt und überkauft war. Der Hauptgrund für die Rückschlaggefahr ist aber die Politik der Opec plus selbst. Das Defizit auf dem Markt ist größtenteils darauf zurückzuführen, dass Saudi-Arabien und Russland ihre Produktion signifikant gekürzt haben. Es handelt sich dabei um ein recht aggressives Management des Angebots durch die beiden Staaten. Das sorgt natürlich zunächst für einen deutlichen Preisanstieg. Irgendwann gelangen wir allerdings an einen Punkt, an dem durch das hohe Preisniveau Nachfrage vernichtet wird. Auf diesem Niveau gefährden also die Anbieter ihren eigenen Absatz, womit sie auch ihr eigenes mittelfristiges Ziel der Marktstabilisierung riskieren. Das bedeutet, dass große Anbieter wie Saudi-Arabien und Russland gar kein sehr hohes Preisniveau auf dem Ölmarkt anstreben, weil sonst die Nachfrage zu stark nachlässt.

Gibt es weitere Gründe, weshalb der Ölpreis nicht durch die Decke geht?

Ja, hier geht es um die Geopolitik. Im November kommenden Jahres gibt es die Präsidentschaftswahlen in den USA. Einer der wichtigsten Indikatoren für den Wahlausgang war stets der Preis für Benzin in den USA. Dieser bewegt sich aktuell in Richtung von 4 Dollar pro Gallone. Dies gilt als eine kritische Marke, bei der die US-Regierung nervös wird, weil das verfügbare Einkommen der Konsumenten in den USA deutlich beeinträchtigt wird. Außerdem spielen die Notenbanken, vor allem die amerikanische Federal Reserve, eine Rolle. Höhere Energiekosten bedeuten eine höhere Inflation. Das hat zur Folge, dass das Zinsniveau länger auf hohem Niveau bleiben muss, Zinssenkungen scheiden zunächst einmal aus. Das wiederum führt zu einem höheren Kurs des Dollar, und es gibt ja bekanntlich eine negative Korrelation zwischen dem Ölpreis in Dollar und dem Kurs des Greenback. Dies alles sind gute Gründe, weshalb der Ölpreis in einer Größenordnung von 85 bis 95 Dollar bleiben könnte.

Der aktuell wieder ausgebrochene Konflikt im Nahen Osten hat am Montag den Ölpreis spürbar ansteigen lassen. Sehen Sie die Gefahr, dass es zu einem kräftigen weiteren Anstieg des Ölpreises aufgrund der geopolitischen Risiken kommt?

Unter Berücksichtigung, dass die Situation sehr stark im Fluss ist, lässt sich aber feststellen, dass es bislang keinen Einfluss auf die globale Ölproduktion gibt. Wir gehen auch nicht davon aus, dass es kurzfristig starke Auswirkungen auf die Fundamentaldaten des Ölmarktes geben wird. Allerdings hat der Ölmarkt damit begonnen, geopolitische Risiken einzupreisen, mit Blick auf die Unsicherheit, wie sich die Ereignisse weiterentwickeln.

Und wie könnten die etwas längerfristigen Auswirkungen auf den Ölmarkt sein?

In der längerfristigen Perspektive blicken wir auf zwei Aspekte. Erstens rechnen wir mit einer langsamer als bisher erwartet ausfallenden Reduzierung der saudi-arabischen Förderkürzungen, sollte es zu einer Verzögerung in der saudisch-israelischen Annäherung kommen. Zweitens gibt es Risiken hinsichtlich der iranischen Ölförderung, sofern die Durchsetzung der Sanktionen gegen den Iran verschärft wird. Per saldo sind diese beiden Effekte bullish für den Ölpreis.

Wie beurteilen Sie die derzeitige konjunkturelle Lage weltweit, und wie wirkt sich das auf den Ölmarkt aus?

Wir haben, um es mit einem Wort zu sagen, Stagflation. Wir sehen in den USA und in Europa eine konjunkturelle Verlangsamung, aber keine stark ausgeprägte Rezession. Das sieht man beispielsweise an den Einkaufsmanagerindizes, die zwar unter die Marke von 50 gefallen sind, deren Unterschreiten Kontraktion anzeigt, aber nicht sehr stark eingebrochen sind. Gleichzeitig haben wir vor allem wegen der Energiepreise eine höhere Geldentwertung. Anleger, die in Rohstoffe investieren, sollten wissen, dass dies ein für Investments in Commodities sehr positives Umfeld ist. Stagflation bedeutet, dass die Nachfrage immer noch höher ist als das Angebot, während tiefe Rezession zur Folge hätte, dass die Nachfrage hinter das Angebot zurückfällt. In der Stagflation ist auch die Arbeitslosigkeit nicht allzu hoch und daher die Konsumnachfrage recht robust. Ein gutes Beispiel für eine Phase der Stagflation sind die 1970er Jahre. Damals waren Investments in Rohstoffe die beste Möglichkeit, sich gegen Verluste abzusichern. Commodities wiesen eine bessere Performance auf als Aktien, Rohstoffe und praktisch alle anderen Asset-Klassen. Wir glauben, dass es aktuell in vielerlei Hinsicht ähnliche Verhältnisse geben wird wie in den 1970er Jahren.

Wird es eine längere Phase mit hoher Inflation geben?

Nun, mit Blick auf die Green Economy, die wir anstreben, gibt es viel zu wenig Investments in umweltfreundlich produzierte Metalle. In der bevorstehenden Dekade wird daher unserer Meinung nach eine neue Welle der Inflation auf uns zukommen, verursacht durch zu geringe Investitionen in die grüne Transition. Wir hatten in den 1970er Jahren einen doppelten Höhepunkt der Inflation, und so wird es unserer Meinung nach auch diesmal kommen. Der zweite Höhepunkt der Inflation, der uns noch bevorsteht, wird also nicht von den Energiepreisen, sondern von den Metallpreisen kommen. Wir benötigen Kupfer für Elektromobilität, für Wärmepumpen, eigentlich für die gesamte Transition hin zur Green Economy. Die Kupferproduktion ist allerdings relativ schmutzig. Wir haben es daher mit einer ungeordneten Transition hin zu einer umweltfreundlicheren Wirtschaft zu tun, mit der Folge, dass die Preise steigen müssen.

Warum profitieren Ihrer Meinung nach davon insbesondere die Preise für Rohstoffe?

Nun, hier geht es um die Preise von physisch vorhandenen Rohstoffen. Wenn der Bedarf an diesen Rohstoffen hoch ist, sind auch die Preise hoch. Bei Aktien und Anleihen hingegen, auch von Rohstoffunternehmen, erfolgt die Preisfindung entsprechend den Zukunftserwartungen. Kommt es zu einer hohen Nervosität im Markt, kann es einen starken Preisverfall geben. Daher bevorzugen wir in einem Umfeld der Stagflation Investments in physisch vorhandene Rohstoffe.

Zwei der drei großen Ölproduzenten, nämlich Saudi-Arabien und Russland, haben ihre Ölförderung reduziert. Wie ist die Entwicklung der Schieferölproduktion in den USA?

Kürzlich sagte der CEO des amerikanischen Schieferölproduzenten Continental Resources, dass mit einem Ölpreis von 150 Dollar zu rechnen ist, wenn nicht stärker in die Schieferölproduktion investiert würde. Auch hier stellt sich die Frage, wo die Investitionsmittel herkommen sollen. Die wichtigste Schlussfolgerung der Schieferölindustrie aus der Coronavirus-Pandemie ist die Betonung von Wert statt Volumen. Vor der Pandemie hatte sich die Branche in den USA sehr viel Geld bei Banken geliehen, und die Qualität der Bilanzen war sehr schlecht. In der Krise sind viele der Unternehmen pleitegegangen oder sie haben konsolidiert. Übrig geblieben sind solide Unternehmen, die keine Pläne haben, ihre Produktion stark auszubauen.

Und was erwarten Sie für das Angebot der Länder des Kartells Opec plus?

Die Opec plus wird irgendwann Druck von der Nachfrageseite spüren, dass bei steigenden Preisen und einem noch knapperen Angebot ihre Produktion nicht mehr abgenommen wird. Es wird also Vernichtung von Nachfrage durch das hohe Preisniveau stattfinden. Dies wird die Opec plus vermeiden wollen. Die Preisschwelle, ab der dies passieren könnte, dürfte bereits bei ungefähr 90 bis 95 Dollar liegen. Wenn wir Saudi-Arabien als den größten Produzenten der Opec betrachten, so ist der Staatshaushalt des Landes bei einem Preis von etwa 80 Dollar je Barrel ausgeglichen. Ich rechne damit, dass es irgendwann im neuen Jahr, vielleicht im Februar, eine erste Produktionssteigerung durch die Opec plus geben wird. Dabei wird es sich um eine kleine Anhebung um vielleicht 200.000 Barrel pro Tag handeln, da der Preis natürlich nicht aggressiv nach unten getrieben werden soll. Auf der anderen Seite würde die Opec plus rasch mit Produktionskürzungen reagieren, wenn es nicht wie von uns erwartet zu einer Stagflation, sondern zu einer ausgeprägten Rezession kommen sollte.

Zeigen eigentlich die westlichen Sanktionen gegen Russland irgendeine Wirkung?

Die Verkäufe russischen Erdöls sind weitgehend unverändert vor allem wegen der jahrelang zu geringen Investitionen in den globalen Ölsektor. Ein wichtiger Faktor ist dabei, dass die Bezahlung für russisches Öl mittlerweile weitgehend in der indischen Rupie und dem chinesischen Yuan erfolgt. Die Sanktionen stehen aber im Zusammenhang mit dem US-Dollar und dem Euro. Solange keine sekundären Sanktionen verhängt werden gegen Indien und China, wird Russland in der Lage sein, sein Öl weiter zu verkaufen. Man kann in dieser Hinsicht sagen, dass die aktuelle US-Regierung eher zurückhaltender hinsichtlich der sekundären Sanktionen im Ölsektor ist als die Trump-Administration, die strikte sekundäre Sanktionen verhängte. Grundsätzlich stellt sich aber die Frage, wie effektiv Sanktionen in der neuen multipolaren Weltordnung überhaupt sein können.

Kommen wir noch kurz zu einem anderen Thema: Wie stellt sich derzeit im gegenwärtig anspruchsvollen Marktumfeld die Preisentwicklung bei den Industriemetallen dar?

Blicken wir auf Kupfer als das wichtigste Industriemetall. Kurzfristig mag es eine Überversorgung des Marktes geben, langfristig aber sind die Aussichten für den Kupferpreis aufgrund der enormen Nachfrage durch die grüne Transition der Weltwirtschaft und den Siegeszug der Elektromobilität sehr gut. Dasselbe gilt übrigens für Aluminium, wo ebenfalls langfristig eine hohe Nachfrage zu erwarten ist. Kurzfristig gesehen handelt es sich um zyklische Märkte, und die Situation in China ist der wichtigste Einfluss auf die Preise. Aktuell sorgen das nachlassende Tempo der chinesischen Industrieproduktion und die Krise im Immobiliensektor dafür, dass die Nachfrage nach den Industriemetallen nicht mehr so stark ist wie von den meisten Marktbeobachtern erwartet. So ist der erwartete Boom nach dem Ende der Covid-Restriktionen weitgehend ausgeblieben. Eine Rolle spielt aber auch die schwache Konjunkturentwicklung in Europa. Insbesondere in Deutschland gibt es das erhebliche Risiko einer Deindustrialisierung. Während es bei Kupfer beispielsweise eine Deckelung des Preises bei ungefähr 8.500 Dollar je Tonne gibt, sollte der Kupferpreis mit Blick auf die langfristige Perspektive eigentlich bei 10.000 Dollar liegen.

Zur Person: Ehsan Khoman ist Head of Commodities, ESG and Emerging Markets Research (EMEA) der japanischen Großbank MUFG mit Sitz in Dubai. Er studierte Wirtschaftswissenschaften am University College London und an der University of Warwick. Er begann seine Karriere im Research des Corporate and Investment Banking der Société Générale und kann auf inzwischen 15 Jahre Erfahrung in der Finanzindustrie zurückblicken. Im Jahr 2016 kam er dann zu MUFG. Sein Hobby ist die Uhrmacherkunst, er besitzt eine Sammlung antiker Uhren.

Das Interview führte Dieter Kuckelkorn.