Derivate: Oldies but Goldies
Vor fast 4 000 Jahren trug sich im alten Mesopotamien folgende Geschichte zu. Im Königreich Larsa lebte damals ein Kaufmann namens Abuwaqar. Sein Geschäft war der Handel mit Sesamsamen. Um in den Besitz der begehrten Ware zu gelangen, war eine riskante und aufwendige Reise in das rund 1 500 Kilometer entfernte Indus-Tal notwendig. Nur dort wurde die Sesampflanze zu dieser Zeit angebaut. Die Herausforderung für Abuwaqar bestand darin, die aufwendige Handelsmission zu finanzieren. Indem er einen Teil seiner Lieferung auf Termin verkaufte, erhielt er von seinem Geschäftspartner namens Balnumamhe sechs Schekel Silber. Die Begleichung der Schuld war laut Vereinbarung in sechs Monaten fällig. Und zwar mit Sesamsamen zum Kassapreis von heute. Damit alles seine Ordnung hatte, wurde das Geschäft vor sieben Zeugen besiegelt. Eine revolutionäre Idee war geboren.Dass es das Geschäft – oder den Forward, wie man heute wohl dazu sagen würde – gegeben hat, belegt eine Tontafel, auf der der Vertrag in Keilschrift bis ins Detail beschrieben steht. Dieses und zahlreiche weitere Fundstücke aus dem Zweistromland belegen: Bereits vor 4 000 Jahren wurden Terminkontrakte auf geradezu selbstverständliche Weise zur Finanzierung und Absicherung von Warengeschäften eingesetzt. Derivate sind also alles andere als eine Erfindung der Neuzeit. Sie blicken auf eine längere Erfolgsgeschichte zurück als fast alle anderen Finanzanlagen – Aktien mit eingeschlossen. Diese tauchten nämlich erst vor etwa 730 Jahren in der Weltgeschichte auf.Wurden Derivate zunächst vor allem zur Absicherung des Warenhandels genutzt, ist ihr Einsatzspektrum im Laufe der Zeit durch zahlreiche Innovationen immer weiter gewachsen. So zum Beispiel an der im Jahr 1531 gegründeten Börse in Antwerpen, wo eines Tages nicht mehr nur die bislang üblichen Warenwechsel gehandelt wurden, sondern auch andere Vereinbarungen. Etwa solche, die den Käufern die Möglichkeit boten, entweder die Lieferung der Ware zu den vereinbarten Konditionen anzunehmen oder gegen Zahlung einer Gebühr fallen zu lassen. Dies war die Geburtsstunde der Option und des Optionshandels. Die Börse in Amsterdam war wiederum der erste Marktplatz, an dem solche Kauf- und Verkaufsrechte von Waren und Wertpapieren gehandelt wurden.Wenig später folgte ein weiterer Meilenstein in der Geschichte der Derivate – dieses Mal am anderen Ende der Welt, im Reich der Shogune. In Osaka entstand im Jahr 1697 die Dojima-Reisbörse. Sie gilt als Vorläufer des Future-Handels. Denn im Unterschied zu herkömmlichen Terminkontrakten (Forwards) wurden die Kaufvereinbarungen an der Dojima im Laufe der Zeit hinsichtlich Menge, Gegenstand, Preis und Zeitpunkt der Lieferungen immer stärker vereinheitlicht. Erst eine solche Standardisierung machte einen regulierten und liquiden Börsenhandel möglich. Beliebt wie nie zuvorMit den heutigen Terminbörsen lässt sich die Dojima freilich nicht vergleichen – weder was das Handelsvolumen, das Anlageuniversum noch die Handelsabwicklung betrifft. Denn an modernen Terminmärkten wie der CME (Chicago Mercantile Exchange), der ICE (Intercontinental Exchange) oder der Eurex erfolgt der Handel mittlerweile voll elektronisch. Gehandelt werden auch längst nicht mehr nur Kontrakte auf Agrargüter wie damals Reis. Bereits im Jahr 1972 wurde an der CME der Handel mit Währungs-Futures eingeführt. Kurz darauf, im Jahr 1975, konnten an der ehemaligen CBOT (Chicago Board of Trade) auch erstmals Zinskontrakte gehandelt werden. In den 1980er Jahren feierten schließlich auch Futures auf Aktienindizes ihr Debüt. Seither erreicht das Handelsvolumen von Derivaten fast jedes Jahr neue Rekordwerte. 2019 legte der Handel von Futures und Optionen nach Angaben der World Federation of Exchanges (WFE) rund 15 % zu. Das entspricht mehr als 33 Milliarden Kontrakten.Damit ist die Geschichte der Derivate aber noch nicht zu Ende. Denn vor gut 30 Jahren kam es in Deutschland zu einer weiteren Revolution. 1989 wurden nämlich erstmals von Banken emittierte Optionsscheine, sogenannte Covered Warrants auf den Markt gebracht. Diese wurden anders als Optionen als Anlageinstrumente eigens für Privatanleger ausgegeben. Zu den Pionieren von damals gehörte Citi. Sie war einer der ersten Anbieter in diesem neuen Markt und emittierte erstmals einen Call-Optionsschein auf den Dollar/D-Mark-Wechselkurs. In der Folge nahm das Angebot an derivativen Finanzprodukten stetig zu. Heute ermöglichen Derivate Anlegern vielfältige Möglichkeiten, auch bei fallenden oder sich seitwärts bewegenden Kursen Renditen zu erzielen, ihr Risiko zu reduzieren oder in nur schwer zugängliche Anlageklassen wie Rohstoffe zu investieren. Wer hätte dies vor 4 000 Jahren erwartet? Dirk Heß, Co-Head EMEA Public Listed Products Sales & Distribution bei Citigroup Global Markets Europe