Im InterviewJan Viebig, Oddo BHF

„Die Bewertung von Aktien ist in vielen Bereichen hoch“

Nach Einschätzung von Jan Viebig von Oddo BHF ist die Bewertung von Aktien in vielen Bereichen hoch, aber nicht überall. Es gäbe noch Chancen, insbesondere bei langfristigen Investment-Themen.

„Die Bewertung von Aktien ist in vielen Bereichen hoch“

Im Interview: Jan Viebig

„Die Bewertung von Aktien ist in vielen Bereichen hoch“

Co-CIO von Oddo BHF sieht aber Chancen in langfristigen Anlagethemen wie KI und setzt den Fokus auf Qualität

Von Dieter Kuckelkorn, Frankfurt
ku Frankfurt

Nach Einschätzung von Jan Viebig, Co-Chief Investment Officer von Oddo BHF, ist die Bewertung von Aktien zwar in vielen Bereichen hoch, aber längst nicht überall. Insofern sieht er nach wie vor Chancen, insbesondere bei langfristigen Investment-Themen wie künstliche Intelligenz und Gesundheit.

Herr Viebig, was sind derzeit Haupteinflussfaktoren auf die Märkte?

Derzeit reagieren die Aktienmärkte sehr stark auf Inflationszahlen. Dies hat sich für uns noch einmal bestätigt, als kürzlich die Märkte deutlich in Bewegung geraten sind, als die Inflationszahlen in den USA nicht so stark zurückgegangen sind wie erwartet. Wir ziehen aus den jüngsten Daten den Schluss, dass die Inflationsraten zwar sinken, aber nicht stark genug. Sie werden auch weiterhin über den Zielgrößen der Notenbanken bleiben. Die Notenbanken blicken in der Regel auf die Kernrate der Inflation, die weiter erhöht ist. Die Folge davon ist, dass unserer Meinung nach die Zinssenkungserwartungen an den Märkten deutlich übertrieben sind. Bis vor kurzem waren die Märkte für Europa noch von Senkungen um insgesamt 140 Basispunkte ausgegangen, also um nicht weniger als sechs Zinsschritte. Wir haben zwar Anfang November Aktien zugekauft, aktuell würden wir mit Blick auf diese Entwicklung Aktien aber nicht übergewichten wollen.

Sind denn die Aktienmärkte inzwischen generell als teuer zu betrachten?

Das würde ich nicht sagen. Aber bestimmte Länder und Segmente sind ohne Zweifel derzeit teuer. Wenn wir uns beispielsweise den amerikanischen Aktienmarkt ansehen, der nicht weniger als 69,9% am MSCI World ausmacht, so gibt es dort ein Kurs-Gewinn-Verhältnis auf Basis der Gewinne der kommenden zwölf Monate von 20,2. Das ist verhältnismäßig hoch. Und wenn wir die Kurs-Buchwert-Verhältnisse betrachten, dann sind wir sehr nahe an den Niveaus, die es in den Jahren 1999/2000 gegeben hat

Was folgern Sie daraus für die Anlageempfehlungen?

Nun, man sollte nicht per se mehr Risiko fahren, aber auch nicht zu pessimistisch werden, sondern eine langfristig stabile und vernünftige Asset-Allokation eingehen und diese halten. Anleger sollten sich also langfristig positionieren mit einer neutralen Allokation bei Aktien. Wer hingegen kurzfristig anlegt, der spekuliert und geht hohe Risiken ein.

Was sind denn die Bereiche und Themen in der Aktienanlage, die derzeit besonders interessant sind, und welche Sektoren sollte man vermeiden?

Wir haben momentan beispielsweise keinerlei Mittel in den deutschen Chemiewerten oder in der europäischen Papierindustrie investiert. Wir sind auch nur in sehr geringem Umfang in Banken engagiert. Das liegt daran, dass wir uns als Investoren in Qualität definieren. Wir interessieren uns für Aktien von Unternehmen, die eine hohe Eigenkapitalrentabilität sowie Wettbewerbsvorteile aufweisen und die strukturell wachsen. Das sind unserer Meinung nach die Grundvoraussetzungen dafür, dass Unternehmen Werte schaffen. Darüber hinaus haben wir ESG-Kriterien (Environment, Social, Governance) im Blick, wobei wir in erster Linie auf eine gute Unternehmensführung Wert legen. Außerdem kommt es natürlich auf die Bewertung der Aktien an, die aktuell in vielen Bereichen hoch ist.

Wie beurteilen Sie denn das konjunkturelle Umfeld der Märkte?

Wir gehen derzeit insbesondere für Deutschland davon aus, dass die Wahrscheinlichkeit für eine Rezession relativ hoch ist. Und aus der Zinsstrukturkurve lässt sich gemäß den gängigen Modellen schließen, dass derzeit eine deutlich erhöhte Wahrscheinlichkeit von 63% dafür besteht, dass es in den USA zu einer Rezession kommt. Gemäß der sogenannten Sahm-Regel, die den Anstieg der Arbeitslosenquote betrachtet, ist die US-Rezessionswahrscheinlichkeit allerdings wesentlich geringer. Daher erwarten wir, dass, falls es dort zu einer Rezession kommt, diese relativ schwach ausfallen wird. Gerade in den USA ist es erstaunlich, dass die Arbeitslosenquote nach elf Leitzinserhöhungen mit 3,7% so niedrig ist. Momentan geht zwar die Zahl der offenen Stellen zurück, aber die Arbeitslosenquote bleibt relativ gering. Auch das spricht dagegen, dass es zu einer schweren Rezession kommt. Damit ist es auch eher unwahrscheinlich, dass es einen stark ausgeprägten Rückschlag an den Märkten geben wird wie etwa von 2000 bis 2003 oder 2008/2009 – solange sich der Arbeitsmarkt weiter robust zeigt. In Deutschland ist noch zu beachten, dass die Energiekosten nach wie vor sehr hoch sind. Sie sind beispielsweise 3,7-mal so hoch wie in den USA. Das ist eine enorme Belastung. Wir meiden daher in der Aktienanlage diejenigen Branchen, die davon in besonderem Maße betroffen sind, genauso wie wir insbesondere in den USA Finanztiteln wegen der Verwerfungen im dortigen Bankensektor aus dem Weg gehen.

Wo sehen Sie dort Gefahren?

Wir sind besorgt darüber, dass einige Unternehmen derzeit in ihren Finanzberichten nicht besonders ehrlich sind, wie es um die Situation der Unternehmen wirklich bestellt ist. Dies ließ sich exemplarisch an der Silicon Valley Bank erkennen, die ja dann 2023 auch pleiteging. Daher achten wir beispielsweise derzeit stärker auf Cashflows als auf Gewinne, weil sich diese als ein besserer Indikator herausgestellt haben.

Warum?

Gewinne lassen sich relativ leicht manipulieren, beim Cashflow ist das schwieriger, wenn die Wirtschaftsprüfer ihre Arbeit gewissenhaft erledigen. Oft werden von den Unternehmen aber auch die Umsätze sehr großzügig ausgewiesen. Dies lässt sich aber als Investor relativ leicht erkennen, indem man in einem ersten Schritt den Nettogewinn mit dem operativen Cashflow vergleicht. Laufen diese Größen auseinander, prüft man, ob die Forderungen des Unternehmens stark ansteigen. Das wiederum deutet darauf hin, dass ausgewiesene Umsätze möglicherweise noch gar nicht stattgefunden haben. Eine typische bilanzielle Maßnahme ist auch die Verlängerung von Abschreibungsfristen für Vermögensgegenstände. Daher investieren wir nur in Unternehmen, die einen gewissen Qualitätsstandard erfüllen – auch in den ausgewiesenen Zahlen.

Wie beurteilen Sie eigentlich die Bewertungen der großen Technologiewerte, die derzeit den amerikanischen Aktienmarkt beherrschen?

Die "Magnificient Seven" sind als Gruppe sicherlich sehr teuer, rund 29% der gesamten Kapitalisierung des S&P 500 bestehen allein aus diesen sieben Unternehmen. Dies ist eine enorme Konzentration, die beispielsweise deutlich höher ist als in der Dotcom-Blase des Jahres 2000. Allerdings gibt es bei den einzelnen Unternehmen aus dieser Gruppe große Unterschiede – zum einen in der Bewertung, zum anderen in der Entwicklung der Cashflows. Bei Tesla beispielsweise ist die Rendite bezogen auf den freien Cashflow sehr niedrig bei weniger als 2%. Ähnliches sehen wir auch bei Nvidia, die wir für sehr teuer halten. Insbesondere wenn man den freien Cashflow der Unternehmen auf den Unternehmenswert bezieht, stellt man fest, dass einige dieser Unternehmen eine sehr hohe Bewertung aufweisen. Andere Unternehmen, wie beispielsweise Microsoft, sind zwar anspruchsvoll bewertet, sie weisen aber relativ stark steigende freie Cashflows auf. Außerdem, und das ist ebenfalls ein sehr wichtiger Indikator, gibt es bei diesen Unternehmen Anpassungen der Gewinnprognosen nach oben. Bei vielen Unternehmen aus den restlichen "S&P 493" weisen die Prognoserevisionen derzeit nach unten. Es ist daher auch wichtig, sich die Umsatztreiber bei diesen Unternehmen genau anzusehen.

Was stellen Sie da fest?

Wenn wir uns beispielsweise Microsoft ansehen, so zahlen in diesem Jahr viele Unternehmen deutlich höhere Summen an den Konzern, weil Microsoft neue Dienstleistungen erbringt wie beispielsweise die KI-Lösung Copilot. Insofern glauben wir, dass Unternehmen wie Microsoft und Alphabet durchaus vernünftig bewertet sind.

Wie investiert man derzeit eigentlich am besten in das Thema künstliche Intelligenz?

Man sollte in diejenigen Unternehmen investieren, die von dem Thema profitieren. Für KI benötigt man große Rechenleistungen und Datenspeicherkapazitäten. Daher sind bestimmt Unternehmen aus dem Halbleiterbereich derzeit sehr attraktiv. Man sollte dabei nicht nur auf eines oder wenige bekannte Unternehmen setzen, sondern sich fragen, welche Bereiche im Technologiesektor davon grundsätzlich profitieren. Zu nennen ist dabei beispielsweise der Bereich Chipdesign. Es gibt einige wenige Unternehmen, die in diesem Bereich führend sind, wie beispielsweise Synopsys. Zur Herstellung von Halbleitern sind wiederum Maschinen erforderlich, hier sticht beispielsweise der niederländische Lithografie-Spezialist ASML hervor. Ein dritter Bereich ist die Produktion von Halbleitern mit der taiwanesischen TSMC als wichtigem Konzern. Außerdem setzen wir auf Unternehmen, die KI-Modelle vermarkten. Hier wäre wieder Microsoft ein gutes Beispiel. Ferner müssen auch große Datenmengen gespeichert werden, hier geht es um den Cloud-Bereich. Hier spielt aus den Reihen der großen US-Technologieunternehmen Amazon eine wichtige Rolle. In all diesen Bereichen suchen wir nach Unternehmen mit ansprechenden Cashflows, hohen Eigenkapitalrenditen und guter Unternehmensführung, die strukturell wachsen und die immer noch vernünftig bewertet sind.

Gibt es weitere große Themen, in die Sie investieren?

Ein weiteres riesiges Thema ist die Gesundheit. Auch dabei setzen wir nicht auf wenige große Aktien, sondern wir unterteilen einen solchen Bereich in mehrere Unterthemen und suchen uns dort die jeweils besten Unternehmen aus. Eines dieser Unterthemen ist der Bereich der Gen-Editierung, die neue Möglichkeiten in der Medizin eröffnet. Ein interessantes Unternehmen aus diesem Bereich ist Vertex Pharmaceuticals, in der Erwartung, dass Unternehmen wie dieses aufgrund ihrer Innovationskraft langfristig gute Chancen aufweisen. Novo Nordisk als einer der bedeutendsten Insulinhersteller ist ebenfalls ein interessanter Wert, den wir seit Jahren im Portfolio haben. Das Unternehmen bietet nun Injektionen an, die die Gewichtsreduzierung einfacher machen sollen. Auch dieses Unternehmen ist ein Innovationsführer, nach denen wir Ausschau halten.

Was ist Ihrer Ansicht nach derzeit in der Anlage an den Bondmärkten zu beachten?

Wir gehen davon aus, dass die Renditen fallen werden. Insofern wäre es ein großes Risiko, eine sehr kurze Duration zu halten. Wir verlängern die Duration, aber wir sind uns natürlich auch darüber im Klaren, dass es nicht möglich ist, den Höhepunkt der Zinsentwicklung exakt zu treffen.

In welche Bereiche und Regionen investieren Sie derzeit an den Bondmärkten hauptsächlich?

In der Aktienanlage legen wir prinzipiell weltweit gestreut an. Bei Anleihen sind wir zwar auch grundsätzlich global aufgestellt, haben aber derzeit eine ausgeprägte Präferenz für europäische Unternehmensanleihen. Das liegt unter anderem daran, dass unsere Kunden kein Währungsrisiko eingehen wollen. In Europa präferieren wir Investment-Grade-Unternehmensanleihen, die mit Blick auf die Risikoaufschläge von aktuell im Durchschnitt rund 140 Basispunkten gegenüber Staatsanleihen attraktiv sind. Dahinter steht natürlich auf unserer Seite die Annahme, dass die Ausfallraten nicht stark steigen werden – was mit unserer Überzeugung einhergeht, dass es keine schwere Rezession geben wird.

Was halten Sie aktuell von High-Yield-Unternehmensanleihen?

Wir sind im High-Yield-Bereich derzeit kaum engagiert. Anleger verfügen quasi über ein Risiko-Budget, das es zu verteilen gilt. Wir glauben, dass dieses Risiko derzeit besser in bestimmten Aktien aufgehoben ist.

Investieren Sie in die EU-Peripherie?

Als Qualitätsinvestoren engagieren wir uns nicht in den Peripherieländern wie Italien und Griechenland. Dort gibt es gewisse Risiken, die unter anderem aus der Heterogenität der Länder in einem einheitlichen europäischen Währungsregime resultieren. Diese Risiken lassen sich nur schwer abschätzen.

Was erwarten Sie 2024 für die Anlage in Gold?

Wir sind der Auffassung, dass nach den zur Verfügung stehenden ökonomischen Modellen, die das Edelmetall gemäß seiner Kaufkraft über lange Zeiträume betrachten, Gold derzeit sehr teuer ist. Wir haben daher unseren Goldanteil, der bei reinen Aktienportfolien langfristig bei ungefähr 10% stehen sollte, reduziert.

Das Interview führte Dieter Kuckelkorn.

Zur Person: Jan Viebig ist Co-Chief Investment Officer (CIO) von Oddo BHF und zugleich Geschäftsführer der Oddo BHF Trust GmbH. Damit ist er für die diskretionäre Vermögensverwaltung im Private Wealth Management der Bank sowie für die Polaris-Fondspalette der Oddo BHF Asset Management verantwortlich. Davor war der promovierte und habilitierte Wirtschaftswissenschaftler in leitenden Positionen unter anderem bei der Schweizer Vontobel Asset Management, bei der Credit Suisse und der DWS Investment tätig. Neben seinen Aktivitäten in der Bankenwelt lehrt er an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main.