MARKTCHANCEN 2016

Die Emerging Markets sind deutlich günstiger geworden

Anleger sollten sich aber mit Käufen zunächst noch zurückhalten - US-Leitzinswende und Wachstumsverlangsamung in China bereiten erhebliche Probleme

Die Emerging Markets sind deutlich günstiger geworden

Von Christopher Kalbhenn,FrankfurtEs ist die Geschichte des bemerkenswerten Niedergangs einer Investment-Story. BRIC war bis vor rund fünf Jahren ein Marketing-Schlagwort, mit dem sich die fantastischsten Anlageträume verbanden. Im Jahr 2001 wurde das Kürzel, hinter dem sich die Schwellenlandriesen Brasilien, Russland, Indien und China verbergen, von Jim O’Neill kreiert. Der ehemalige Volkswirt von Goldman Sachs rechnete u.a. auf Basis demografischer Prognosen vor, dass diese Staaten in den kommenden Jahrzehnten das Ranking der nach Bruttoinlandsprodukt größten Länder umpflügen würden – mit China an der Spitze, das die USA als weltgrößte Volkswirtschaft ablösen würde.Das Thema wurde von den Investoren und den Anbietern von Anlageprodukten mit Begeisterung aufgenommen und zum Verkaufsschlager. Die Aussicht auf Jahrzehnte mit berauschend hohen Wachstumsraten, getrieben von einem stark wachsenden Arbeitskräftepotenzial, zunehmenden Wohlstand einer um mehrere Hundert Millionen Menschen wachsenden Mittelschicht, Globalisierung, Modernisierung, Reformen, gigantischen Infrastrukturinvestitionen, einem Rohstoff-Boom etc. ließ Schwellenländer- und nicht zuletzt mit dem Label BRIC versehene Produkte wie Pilze aus dem Boden schießen. Immer mehr Anleger griffen zu. Schwellenländer sind “out”Heute sind BRIC-Aktien und Schwellenländer-Investments insgesamt einfach nur noch “out”. Bände spricht die im zurückliegenden Herbst getroffene Entscheidung ausgerechnet von Goldman Sachs Asset Management, ihren BRIC-Aktienfonds nach neun Jahren abzuschaffen bzw. mit dem Emerging Markets Equity Fund zu verschmelzen. Viel war aber auch nicht mehr übrig. Gegenüber seinem Höchststand aus dem Jahr 2010 war das in dem Fonds verwaltete Volumen nach Daten von Bloomberg von rund 840 Mill. auf knapp 100 Mill. Dollar geschrumpft.Die Misere der Emerging Markets hat eine Vielzahl von Ursachen. Probleme ergeben sich vor allem dadurch, dass sich ihr Wachstum seit dem Jahr 2010 verlangsamt hat. Im Zentrum steht China, das mit gravierenden Problemen wie Überkapazitäten und den Folgen massiver Fehlinvestitionen zu kämpfen hat und zudem versucht, sein ökonomisches Modell von einem vor allem investitions- und exportgetriebenen zu einem stärker von Konsum und Dienstleistungen getragenen Wachstum umzustellen. Das rückläufige Wachstum Chinas hat gravierende Auswirkungen auf viele andere Schwellenländer, die sich in den zurückliegenden Jahren immer stärker auf das Reich der Mitte ausgerichtet haben. Da die chinesische Wirtschaft durch den Umbau zudem weniger rohstoffintensiv wird, leiden Rohstoffe exportierende Länder besonders stark.Die Verlangsamung des chinesischen Wachstums wird sich noch lange fortsetzen und die Emerging Markets insgesamt belasten. Hinzu kommt, dass die Integration der Schwellenländer in die Weltwirtschaft ein weitgehend abgeschlossener Prozess ist und die damit verbundenen Impulse, die das Wachstum in den zurückliegenden Jahren angetrieben haben, wegfallen. Probleme bereiten ferner eine durch stark steigende Löhne gesunkene Wettbewerbsfähigkeit, strukturelle Defizite und verschleppte Reformen, eine vielfach unzureichende Infrastruktur, Korruption politische Krisen etc. Seit dem Jahr 2013 drückt außerdem die geldpolitische Wende in den USA auf Emerging-Market-Anlagen. Hatten seit der Jahrtausendwende überlegene Wachstumsperspektiven und höhere Rendite zu gigantischen Kapitalzuflüssen aus den Industrie- in die Schwellenländer geführt, hat nun eine Gegenbewegung eingesetzt. Wie jeder Boom endet irgendwann aber auch jeder Abschwung. Durch die sinkenden bzw. unterdurchschnittlich abschneidenden Kurse von Aktien, Anleihen und Währungen bauen sich in den Emerging Markets allmählich günstige Einstiegsgelegenheiten auf. Während etwa die Aktien der Industrieländer seit dem Jahr 2010 – gemessen am MSCI World – um 37 % zugelegt haben, ist der Sammelindex der Schwellenländer-Aktienmärkte, der MSCI Emerging Markets, um 31 % gefallen. Im Ergebnis weisen die Schwellenländeraktien nun wieder einen deutlichen Bewertungsabschlag aus. Derzeit liegt das Kurs-Gewinn-Verhältnis des MSCI Emerging Markets auf Basis der Ergebnisschätzungen für das Jahr 2016 bei 10,9 und damit viereinhalb Punkte unterhalb des KGV des MSCI World.Überdies ist für den langfristig ausgerichteten Anleger entscheidend, dass die über den aktuellen Abschwung hinausreichenden positiven Perspektiven der Schwellenländer weiterhin Bestand haben. Sie werden auch in den kommenden Jahrzehnten ein deutlich höheres Wachstum aufweisen als die Industrieländer. So schätzt die Citigroup, dass die Schwellenländer in den kommenden drei Jahren BIP-Wachstumsraten von 4 %, 4,8 % und 5 % aufweisen werden, während sie für die entwickelten Volkswirtschaften Wachstumsraten von jeweils 2% prognostiziert. Durch die aktuelle Verlangsamung müssen möglicherweise die Zeitpunkte, in denen die großen Emerging Markets eine Industrienation nach der anderen im Ranking der nach Wirtschaftsleistung größten Länder überholen, neu berechnet bzw. etwas weiter nach hinten verschoben werden. Aufgeschoben ist aber nicht aufgehoben.Für das höhere Wachstum werden allein schon die demografisch günstigeren Strukturen der Schwellenländer sorgen. Dadurch, dass die Bevölkerung in der Regel deutlich jünger ist, werden sich das Arbeitskräftepotenzial und die Zahl der Konsumenten im Unterschied zu den etablierten Volkswirtschaften weiter erhöhen. China ist aufgrund der Auswirkungen der Ein-Kind-Politik in dieser Hinsicht eine Ausnahme, der andere Schwellenländerriese, Indien, zählt aber zu den Emerging Markets mit positiven demografischen Aussichten. Zudem hält der Trend zu steigenden Einkommen bzw. das starke Wachstum kaufkräftigerer Mittelschichten an. Damit ergeben sich überdurchschnittliche Wachstumsaussichten für Produkte und Dienstleistungen, die über den alltäglichen Bedarf hinausgehen. Dazu zählen etwa Konsumartikel des gehobenen Bedarfs, Reisen oder Finanzdienstleistungen. Aktives Management wichtigAnleger sollten aber trotz der deutlich günstiger gewordenen Bewertungen und langfristig positiven Perspektiven nicht unkritisch mit Schwellenländeranlagen umgehen. Die Zeiten, in denen an den Emerging Markets so gut wie alles gestiegen ist, sind vorbei. Selektion ist daher weit wichtiger, als dies in der ersten Dekade des Jahrtausends der Fall war. Anleger sind daher gut beraten, aktiv gemanagten Fonds gegenüber passiven Anlageprodukten den Vorzug zu geben. Letztere enthalten vielfach hoch gewichtete Aktien, die entweder in Problembranchen wie etwa dem Bergbau aktiv sind oder starkem staatlichen Einfluss ausgesetzt sind. Ein gutes Beispiel bietet China. Dort sind die Indizes, die stark von “alten” Industrien wie Bau, Bergbau und Stahl sowie staatlich kontrollierten Unternehmen geprägt sind, von dem Chinext-Composite, der auf Aktien neuer Industrien wie Internet- und E-Commerce-Aktien fokussiert ist und der im Jahr 2015 113 % gewonnen hat, deutlich geschlagen worden.Auch in regionaler Hinsicht sind aktives Management und selektives Investieren gefragt. Seit dem Ende des Booms kommen die speziellen Stärken und Schwächen der Länder stärker zum Tragen. Das führt neben einer unterschiedlichen Aktienmarkt-Entwicklung auch zu deutlichen Unterschieden in der Entwicklung der Währungen. Aus Sicht etwa der in Dollar und Euro rechnenden Aktienanleger hat die zum Teil sehr deutliche Schwäche von Emerging-Market-Währungen zu empfindlichen Einbußen geführt. So hat etwa der brasilianische Bovespa im Jahr 2015 in Landeswährung 14 % verloren, in Dollar und Euro jedoch 42 % und 36 %. Vor allem in Ländern, die Reformen verschleppen und/oder mit anderen politischen Problemen zu kämpfen haben, unter strukturellen Problemen leiden oder von Rohstoffexporten abhängig sind, haben die Aktienkurse und Währungen stark gelitten. Ein Negativbeispiel ist eben Brasilien, dessen Währung in diesem Jahr 26 % zum Dollar verloren hat. Das Land leidet unter fehlenden Reformen, einem großen Korruptionsskandal auf höchster Ebene und der sinkenden Rohstoffnachfrage Chinas. Aktives Management ermöglicht es, Problemländer unterzugewichten und Länder mit positiver Entwicklung überzugewichten. Das herausragende Beispiel für Letzteres ist Indien. Die Währung des Landes ist in weit geringerem Maße von der allgemeinen Währungsschwäche der Emerging Markets betroffen. Zu verdanken ist die überdurchschnittliche Entwicklung der Finanzmärkte der Reformpolitik von Ministerpräsident Modi und der glaubwürdigen, auf entschiedene Bekämpfung ausgerichteten Geldpolitik des Zentralbankchefs Raghuram Rajan.Auch wenn die Emerging Markets wesentlich günstiger geworden sind, sollten sich Anleger gedulden bzw. mit einem Einstieg derzeit noch abwarten. Es besteht das Risiko, dass der beginnende Leitzinserhöhungszyklus der US-Notenbank für weiteren Druck sorgen wird. Auch wenn bereits in sehr großem Umfang Mittel aus den Schwellenländern abgezogen worden sind, bedeutet dies keineswegs automatisch, dass der Prozess schon abgeschlossen ist. Zudem ist die Verlangsamung der Wirtschaft Chinas ein Problem, an dem die Schwellenländer voraussichtlich auch im neuen Jahr zu knabbern haben werden.