Kreditwürdig

Die EZB und die Diskussion um höhere Mindestreserven

Christoph Rieger von der Commerzbank glaubt nicht, dass die EZB den Mindestreservesatz über 2% anheben wird, da sie sonst Gefahr läuft, den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu verletzen.

Die EZB und die Diskussion um höhere Mindestreserven

Kreditwürdig

Die EZB und die Diskussion um höhere Mindestreserven

Von Christoph Rieger*)

Forderungen nach einer höheren Mindestreserve für Banken stehen schon länger im Raum. Vor einigen Wochen berichteten Reuters-Quellen, dass die EZB „eine Zahl diskutiert, die näher bei 3 oder 4% liegen könnte“. Vergangene Woche hat zum ersten Mal ein EZB-Ratsmitglied eine Erhöhung auf 5–10% in den Raum gestellt. Wie realistisch ist eine solche Anpassung, und was wären die Auswirkungen?

Im Juli beschloss die EZB überraschend, die Verzinsung der Mindestreserveguthaben vom Einlagensatz auf 0% zu senken. Der Mindestreservesatz, d. h. die Höhe der von den Banken zu haltenden Reserven, wurde unverändert bei 1% der relevanten Einlagen belassen.

Auch wenn die Entscheidungen der EZB oft umstritten sind, folgen sie doch meist einer vorher festgelegten Logik. Bei den Mindestreserven liegt der Schlüssel für weitere Änderungen wahrscheinlich in der Begründung der Pressemitteilung sowie in der Diskussion, die sich im Protokoll der Juli-Sitzung findet.

Im Kern geht es der EZB darum, die „Wirksamkeit der Geldpolitik“ zu erhalten und gleichzeitig ihre „Effizienz“ zu steigern. Vereinfacht ausgedrückt bedeutet das, dass die EZB geringere Zinszahlungen auf Mindestreserven als eine Möglichkeit ansieht, den gleichen geldpolitischen Kurs zu geringeren Kosten umzusetzen.

Es ist wichtig zu verstehen, dass die EZB Mindestreserven nicht als geldpolitisches Instrument einsetzt (wie es beispielsweise die Bundesbank als Ergänzung zu ihrer Geldmengensteuerung tat oder die chinesische Zentralbank noch heute tut). Es stimmt auch nicht, dass das „Absaugen“ von Überschussliquidität durch höhere Mindestreserven die Inflationsrisiken verringert, wie einige Kommentatoren behaupten. Frau Schnabel hat es jüngst in einer Rede auf den Punkt gebracht: Die Banken „ziehen keine Überschussreserven ab, um neue Kredite zu vergeben“.

Nach den obigen Überlegungen könnte die EZB das Effizienzargument weiter heranziehen, um eine höhere Mindestreservepflicht zu rechtfertigen, solange dies nicht zu negativen Nebeneffekten führt, die die Vorteile überwiegen.

Die EU-Ratsverordnung 2531/98 sieht vor, dass die EZB den Mindestreservesatz zwischen 0% und 10% festlegen kann. Bis 2012 lag er bei 2%, seitdem beträgt er 1%.

10% ist also auch die gesetzliche Obergrenze. Eine Betrachtung der Implikationen und Nebenwirkungen legt jedoch nahe, dass der Mindestreservesatz deutlich unter der Obergrenze bleiben sollte:

Transmission: Auf ihrer jüngsten Pressekonferenz betonte Lagarde, dass die Transmission der Geldpolitik stärker sei als in früheren Zyklen und dass die Kreditdynamik weiter nachgelassen habe. Dies war entscheidend für die Einschätzung der EZB, dass die Zinssätze vermutlich ein ausreichend restriktives Niveau erreicht haben. Eine deutliche Anhebung des Mindestreservesatzes würde die Banken spürbar belasten und dürfte die restriktive Wirkung der Geldpolitik über den Kreditkanal wohl weiter verschärfen.

Belastungen: Nach unseren Berechnungen würde eine Anhebung des Mindestreservesatzes auf 4% die Nachsteuergewinne der Banken des Eurogebiets auf Basis des vergangenen Jahres um 18% reduzieren. Dieses Jahr werden die Gewinne etwas höher sein, was den Effekt etwas reduziert. Es würde dennoch die Banken in ihrer Möglichkeit, Kapital aufzubauen, deutlich beschneiden. In rechtlichen Stellungnahmen zu den geplanten Bankensteuern sprach sich die EZB übrigens deshalb gegen die Steuern aus.

Erhebliche Effekte

Umgehungseffekte: Wenn die Belastung für die Banken durch die Mindestreserve steigt, werden sie vermutlich ihre Bemühungen verstärken, diese zinslosen Einlagen zu umgehen, was zu Verzerrungen führen könnte. Dies könnte beispielsweise dadurch geschehen, dass sie unbesicherte Einlagen von Nichtbanken zum Monatsende abbauen oder durch Reverse Repos ersetzen.

Verteilungseffekte: Ein deutlich höherer Mindestreservesatz könnte zu unerwünschten Umverteilungseffekten zwischen den Banken führen. Die Banken wären je nach Geschäftsmodell unterschiedlich betroffen (z. B. sind Geschäftsbanken mit einer großen Einlagenbasis stärker betroffen als Investmentbanken).

Engpässe bei der Überschussliquidität: Da die Überschussliquidität ungleichmäßig auf die Länder und Banken verteilt ist, würde eine deutlich höhere Mindestreservepflicht bei einigen Banken wahrscheinlich zu einem Liquiditätsdefizit führen. Laut unseren Berechnungen würde selbst eine Erhöhung des Mindestreservesatzes um „nur“ einen Prozentpunkt bedeuten, dass die italienischen Banken in der Summe ihre Bilanzen umstrukturieren müssten, um die höhere Mindestreserveanforderung zu erfüllen.

Auswirkungen auf HQLA/LCR: Banken, bei denen die Überschussliquidität nicht ausreicht, um die höhere Mindestreserve zu erfüllen, müssten mehr Einlagen bei der EZB generieren. Dies würde wahrscheinlich eine Verringerung der hochqualitativen liquiden Aktiva (HQLA) bedeuten, wobei die Papiere mit den niedrigsten Renditen wohl zuerst verkauft werden. Da die Mindestreservepflicht nicht auf die Liquiditätsdeckungsquote (LCR) angerechnet wird, führt eine Erhöhung der Mindestreserve automatisch zu einer Verringerung der LCR. Banken, die bei ihrer LCR wenig Spielraum haben und Liquidität benötigen, müssten dann möglicherweise auf die Offenmarktgeschäfte der EZB zurückgreifen, wobei es natürlich nicht attraktiv ist, Mittel zu 4,5% aufzunehmen, um sie zu 0% wieder bei der EZB anzulegen.

Angesichts all dieser Unwägbarkeiten glauben wir nicht, dass die EZB den Mindestreservesatz über 2% anheben wird, da sie sonst Gefahr läuft, den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu verletzen. Mit einem Satz von 2% würde die EZB zum Regime von vor 2012 zurückkehren (mit dem wichtigen Unterschied, dass damals die Mindestreserve zum Hauptrefinanzierungssatz verzinst wurde). Das System würde damit der Praxis der Bundesbank vor der Einführung des Euro entsprechen (wo die Mindestreserve nicht verzinst wurde). Größere Änderungen hinsichtlich der Rolle der Mindestreserven oder ihrer Berechnung könnten nach Abschluss der Überprüfung des geldpolitischen Rahmens erfolgen, die sich bis zum Frühjahr 2024 verzögern wird.

Bis dahin wäre es denkbar, dass eine Erhöhung des Mindestreservesatzes mit einer Senkung der Verzinsung staatlicher und vielleicht sogar ausländischer Einlagen kombiniert wird. Dies würde der „Effizienz der Geldpolitik“ der EZB Rechnung tragen – und es wäre auch leichter zu vermitteln, wenn die EZB die Zinszahlungen nicht nur an ihre Banken, sondern auch an die Staaten reduziert. Der Königsweg zur Senkung der Zinszahlungen an die Banken wäre freilich ein Abbau der Überschussliquidität durch eine beschleunigte Rückführung der QE-Bestände.

*) Christoph Rieger ist Head of Rates & Credit Research bei der Commerzbank.