"Die Industrie ist extrem flexibel geworden"
Jürgen Pieper, Senior Advisor Automobiles beim Bankhaus Metzler, hält die deutsche Automobilindustrie grundsätzlich für gerüstet, um die Coronakrise zu überwinden. Langfristig bleibe es für die Zulieferer entscheidend, sich stark in neuen Technologien zu positionieren. Eine Batterieknappheit könnte laut Pieper schon bald Realität werden. Herr Pieper, das Coronavirus hat die Aktien der deutschen Automobilbranche besonders hart getroffen – dabei zeigten sich die Kurse vieler Zulieferer zuletzt ohnehin volatil. Wie groß sind die Gefahren für diese Titel im laufenden Jahr?Seit Bekanntwerden der Dieselaffäre wirkt die Automobilindustrie wie ein Fliegenfänger, in dem alle kritischen Themen sofort landen. Corona ist jetzt leider noch einmal eine ganz andere, von den meisten von uns ganz eindeutig unterschätzte Dimension einer globalen Megakrise. Das Virus trifft auf eine ohnehin schon schwache Konjunktur und vervielfacht die Probleme noch einmal. Die Krise schlägt sich leider mehrfach nieder – einerseits sind die Produktion und die Lieferketten gestört, andererseits geht die Nachfrage in nahezu allen Regionen sehr stark zurück. Deutsche Zulieferer machen in der Regel 15 % bis 20 % ihres Umsatzes in China, im ersten Quartal werden aber wohl 40 % davon wegbrechen. Im Gesamtjahr fehlen rein rechnerisch also plötzlich bis zu 10 % der Erlöse allein aus China. Zwar sind die Infektionszahlen in China mittlerweile rückläufig, aber inzwischen sorgt das Virus weltweit für Absatzeinbrüche. Für die Kurse der Zulieferer geht es deshalb steil abwärts. Wie sieht denn die langfristige Perspektive aus?Eigentlich ist es ja eine Stärke, dass die Automobilindustrie global so stark präsent und gut vernetzt ist wie kaum eine andere Industrie. Nehmen Sie als Beispiel Leoni – die produzieren in der Ukraine und Rumänien vier, fünf Meter lange Kabelbäume und liefern diese genau im Moment des Bedarfs nach Stuttgart oder München. Da sind täglich dutzende Lkw über mehrere Grenzen unterwegs, die politisch nicht immer einfach sind. Es zeichnet die deutsche Autoindustrie aus, dass sie über Jahre hinweg solch komplexe Systeme aufgebaut hat. Diese sind zwar anfällig, können sich aber grundsätzlich selbst reparieren – das war auch in vergangenen Krisensituationen, wie zum Beispiel nach dem schweren Erdbeben in Japan 2011, zu beobachten. Sind solche Schocks denn mit der aktuellen Corona-Pandemie vergleichbar?Die neue Pandemie stellt wegen der Rigorosität der Maßnahmen und mehr noch wegen der vermutlichen Langwierigkeit der Restriktionen alles uns Bekannte in den Schatten. Insofern bieten vergangene Krisenverläufe zwar eigentlich gute Referenzpunkte für den Gesamtverlauf einer derartigen Flaute. Denn an ihnen zeigt sich die angesprochene hohe Resistenz der Automobilindustrie. Kurz- und mittelfristig hilft diese Erkenntnis allerdings nicht. Trotzdem – und dies sollte dann 2021 bei Investmentüberlegungen eine Rolle spielen: Kein anderer Sektor hat beispielsweise die Finanzkrise so schnell hinter sich gelassen wie die Automobilbranche. Wichtig dabei war natürlich der kaum von den Folgen des Crashs betroffene Wachstumsmarkt China . . . . . . der ausgerechnet jetzt ohnehin schwächelt . . .. . . doch auch die hohe Finanzkraft und Qualität der Produktion haben eine große Rolle gespielt. Zudem ist die Industrie extrem flexibel geworden. Die Unternehmen können ihre Kosten gut anpassen und zeitweise Personal einsparen. Entweder schicken sie die Mitarbeiter in Zwangsurlaub, oder sie bauen Arbeitszeitkonten ab und später wieder auf. Die Materialkosten gehen gleichförmig mit den Umsätzen herunter. Allerdings ist die aktuelle Pandemie eine nie erfahrene massive Belastung – die wegen ihrer globalen und vermutlich monatelangen Wirkung viele Zulieferer in die Verlustzone drücken wird. Wann könnte die Krisenerfahrung denn anfangen sich auszuzahlen?Der Nachholeffekt wird sich in der Automobilindustrie sehr wahrscheinlich einstellen – und je länger er hinausgezögert wird, desto stärker sollte er ausfallen. Das wird dann die Belohnung für die Unternehmen und auch die Investoren sein, die durchgehalten haben. Aus dem aktuellen Bust heraus könnte dann ein Boom entsteht. Natürlich gibt es einige Unternehmen, die nun darauf verzichten werden, neue Firmenwagen zu kaufen, aber zu 95 % wird die Nachfrage nach Fahrzeugen nicht aufgehoben, sondern verschoben. Für die ersten beiden Quartale muss natürlich mit extrem schwachen Zahlen gerechnet werden, nach jetzigem Erkenntnisstand wird es auch Mitte des Jahres noch zu keiner Entspannung kommen. Dabei ist die Nachfrageseite besonders kritisch zu sehen, wahrscheinlich wird sich die Situation erst im kommenden Jahr verbessern. Dann ist allerdings eine sehr ausgeprägte Erholung möglich. Die Kaufbereitschaft kann in der Folge schnell sehr stark zunehmen. Allerdings ist das Coronavirus momentan nicht der einzige Belastungsfaktor für die Aktien der deutschen Zulieferer. Welches Risiko geht im laufenden Jahr von Donald Trumps handelspolitischem Gebaren aus?Corona wird noch auf Monate hinaus alles andere in den Schatten stellen, selbst Trump mit seinem Hang zu handelspolitischen Machtspielchen. Immerhin hat er selbst genug damit zu tun, die Corona-Gefahren in den USA einzudämmen. Auch ist anzunehmen, dass Trump vor der Präsidentschaftswahl im Herbst keine zusätzlichen großen Störfaktoren mehr haben will. Für ihn besteht immer das Risiko, dass Handelskriege, die er lostritt, auf ihn zurückfallen. Gerade die Europäer haben ja häufig sofort mit einer gezielten Gegendrohung geantwortet. Wie geht es denn für die Zuliefereraktien nach der Wahl weiter?Sollte Trump Präsident bleiben, wird die Zolldrohung langfristig bestehen bleiben und immer wieder hochkochen. Prinzipiell waren die vergangenen drei Jahre für die Aktienmärkte aber erfolgreich – bis zum Auftauchen des neuen Virus. Die Auferstehung von Joe Biden als chancenreichstem demokratischen Kandidaten hat die Nachwahlperspektiven für die USA generell verbessert, denke ich. Mit Biden würde ein Pragmatiker ins Weiße Haus einziehen, der nicht nur für die heimische Wirtschaft, sondern mehr noch für alle Nichtamerikaner viel berechenbarer würde. Einige Ökonomen mutmaßen, dass europäische Unternehmen durch das Phase-1-Handelsabkommen zwischen den USA und China Marktanteile verlieren könnten. Was bedeutet der Deal für die deutschen Zulieferer?Theoretisch könnte das Abkommen aus ihrer Sicht belastend werden, in der Praxis halte ich das aber für extrem unwahrscheinlich. Denn für die deutschen Zulieferer wären ihre amerikanischen Pendants die Hauptkonkurrenz – diese verfügen allerdings nicht über so starke Beziehungen zu chinesischen Fahrzeugherstellern, dass sie hiesigen Unternehmen Konkurrenz machen könnten. Andersherum gibt es bislang auch keine chinesischen Autobauer, die über ähnlich hochwertige Marken verfügen wie beispielsweise VW mit Audi und Porsche. Zudem sind die deutschen Zulieferer den Fahrzeugherstellern mit hohen Qualitätsstandards gefolgt. Ihre stärksten Wettbewerber kommen derzeit eher aus Japan und Südkorea, Frankreich und Italien als aus den USA. Welche Wachstumsmärkte sind denn für die deutschen Zulieferer im internationalen Wettbewerb besonders interessant?Im laufenden Jahr sehe ich eher wenig Potenzial in neuen Regionen. Ab 2021 werden es zunächst vor allem asiatische Märkte sein, die aus heutiger Sicht die Corona-Malaise als Erste hinter sich lassen werden. Wer international mitspielen will, muss allerdings auch für den Wandel zur Elektromobilität gerüstet sein.Für Investmententscheidungen sollte die Positionierung in neuen Technologien tatsächlich eines der entscheidenden Kriterien sein. Aus unserer Sicht sind diejenigen Unternehmen im Vorteil, die sich schon stark mit neuen Technologien beschäftigen oder die bereits weitgehende Restrukturierungen hinter sich gebracht haben. Welche technologischen Trends erachten Sie als besonders wichtig für die Zulieferer?Ein gutes Batteriemanagement wird in diesem Jahrzehnt sicher entscheidend sein – dazu zählt die richtige Überwachung, Kontrolle und Kühlung der Batterien, um Ladezeiten zu minimieren, die Performance zu optimieren und eine möglichst lange Laufzeit zu ermöglichen. Eine Batterieknappheit und ein Mangel an Softwareexpertise könnten schon bald Realität werden. Man sollte vorhandene Talente aber auf jeden Fall bewahren, so gut es geht. Es ist ja nicht so, dass sich die Welt plötzlich in eine komplett andere Richtung dreht. So wird Präzisionsmechanik beispielsweise im Fahrwerksbau immer noch ihren Platz haben. Das Interview führte Alex Wehnert.