Dieselgate lässt Kursziele von Volkswagen purzeln
Von Carsten Steevens, HamburgDer am 18. September bekannt gewordene Skandal um jahrelange Manipulationen von Emissionswerten bei Dieselfahrzeugen im Volkswagen-Konzern hat die VW-Vorzugsaktie um bis zu 47 % abrutschen lassen. Am 5. Oktober markierte der Titel bei 86,36 Euro ein Fünfjahrestief. Seitdem hat sich die Aktie etwas erholt, gestern belief sich der Abschlag der Marktkapitalisierung noch auf rund 30 Mrd. Euro. Doch in Anbetracht der nicht abschätzbaren Folgen des Abgasskandals dürfte das Papier weiterhin erheblichen Schwankungen ausgesetzt sein. Es spricht derzeit viel dafür, dass der Umfang von Strafen, Schadenersatzforderungen und Prozesskosten noch lange ungewiss bleiben wird. Nicht abzusehen sind ebenfalls die Auswirkungen des Dieselgate-Skandals auf die Absatz-, Umsatz- und Ergebnisentwicklung sowie auf die gesamte Konstitution des Wolfsburger Dax-Konzerns. Vergleiche helfen kaumGibt es etwas, woran sich die verunsicherten Aktionäre orientieren könnten? Vergleiche mit Krisen anderer Unternehmen sind dafür nur bedingt geeignet. Der britische Ölkonzern BP etwa hat das letzte Kursniveau von 655,40 Pence vor der Explosion der Bohrplattform Deepwater Horizon am 20. April 2010 bis heute nicht wieder erreicht. Binnen zwei Monaten nach der Katastrophe im Golf von Mexiko, die elf Menschenleben forderte, evaporierten 54 % des Börsenwertes. BP sah sich gezwungen, zur Abfederung der Belastungen, die sich heute auf 55 Mrd. Dollar belaufen, Beteiligungen und andere Vermögenswerte zu veräußern. Die Bonitätsnote des Konzerns liegt noch um drei bzw. vier Stufen niedriger als vor fünf Jahren.Beruhigender für VW-Aktionäre mag ein Blick auf Toyota wirken: Die Aktie des japanischen Rivalen verlor von Anfang 2010 bis zum Herbst des gleichen Jahres zwar rund ein Drittel ihres Werts, weil der Konzern wegen klemmender Gaspedale in Fahrzeugen, die zu tödlichen Unfällen führten, ein Desaster in den USA erlebte und fast 10 Millionen Autos in die Werkstätten zurückrufen musste. Doch der Rückruf drückte den Autoabsatz in diesem Markt nicht auf Dauer, und Strafen sowie Entschädigungszahlungen summierten sich auf weniger als 2,5 Mrd. Dollar. Der Aktienkurs hat sich seit 2010 zwischenzeitlich mehr als verdoppelt.Die Aktie von Volkswagen dürfte, solange sich Tragweite und Kosten des Abgasskandals nicht beurteilen lassen, auch von Spekulationen über die Belastbarkeit des Zwölfmarkenkonzerns beeinflusst werden. Welche Folgen hätte ein Absinken der Ratings? Könnte eine Kapitalerhöhung erforderlich werden oder der Verkauf von Beteiligungen? Angekündigt hat der neue Vorstandsvorsitzende Matthias Müller bereits, geplante Investitionen auf den Prüfstand zu stellen und diese eventuell zu streichen oder zu verschieben. Zudem soll das Effizienzprogramm, das bislang bei der Kernmarke VW Pkw bis 2017 zu einer Ergebnisverbesserung von rund 5 Mrd. Euro führen soll, verschärft werden. Die Kasse stärken zudem Erlöse aus dem Verkauf der Anteile am ehemaligen japanischen Partner Suzuki und der Beteiligung an der niederländischen Leasingfirma Leaseplan.Die vielen Fragezeichen haben in den vergangenen 18 Tagen auf breiter Ebene zu einer Senkung von Kurszielen sowie zu Änderungen bei den Anlageempfehlungen geführt: Heute wird die Aktie nach Daten von Thomson Reuters noch von sechs Banken mit “Buy” oder “Outperform” bewertet. Vor einem Monat fielen noch 21 Analystenurteile positiv aus. Zwar erscheint das Papier nach dem Kurssturz auf Basis der Konsensgewinnschätzungen für das Jahr 2016 mit einem Kurs-Gewinn-Verhältnis von 8,6 sehr günstig. Doch Analysten warnen: “Trotz des auf Basis des aktuellen Kurses vorhandenen Upsides, selbst unter Berücksichtigung von Geldstrafen und operativen Rückschlägen, bleiben die Unsicherheiten hoch”, heißt es bei M.M. Warburg, die das Rating auf “Halten” zurückgenommen und das Kursziel auf 130 Euro von 265 Euro halbiert hat. Auch die Deutsche Bank, die ihr Kursziel auf 130 Euro halbierte und die VW-Aktie auf “Neutral” von Buy” zurückstufte, warnt, im gesunkenen Preis eine Kaufgelegenheit zu sehen. Das Ausmaß des Skandals werde noch länger unklar bleiben, die Strafen seien nicht quantifizierbar und die Folgen für das operative Geschäft bedeuteten größere Risiken für Cash-flows. Belastungen ungewissCredit Suisse, die das Kursziel auf 82 Euro von 169 Euro zurückgenommen hat und die VW-Aktie mit “Underperform” einstuft, führt in ihrer jüngsten Analyse ein Szenario an mit einer Kostenspanne für Volkswagen von 23 Mrd. bis 78 Mrd. Euro. Schnell verfügbare Mittel von 25 Mrd. Euro inklusive der Erlöse aus den Suzuki- und Leaseplan-Verkäufen seien vermutlich nicht ausreichend, um Kosten für den Rückruf – die Manipulationssoftware soll weltweit bei bis zu 11 Millionen Fahrzeugen verbaut worden sein -, Strafen und Subventionsrückforderungen zu decken. Es gelte auch Risiken bei der Finanztochter VW Financial Services zu beachten, die ihre Bilanz auf fast 150 Mrd. Euro ausgedehnt habe, um das Industriegeschäft des Konzerns zu unterstützen. Das Ergebnis könne unter höheren Refinanzierungskosten und Vorsorgen leiden, was für Druck bei der Kapitalquote sorgen würde.Während die LBBW nach der Wahl von Finanzvorstand Hans Dieter Pötsch zum Aufsichtsratsvorsitzenden ihr “Halten”-Rating sowie das Kursziel von 114 Euro beibehalten hat und einen Schaden für VW von 47 Mrd. Euro antizipiert, kommt Berenberg zu der Einschätzung, dass inzwischen viele negative Faktoren im Aktienkurs eingepreist seien. Die Privatbank stuft ihr VW-Rating inzwischen mit “Kaufen” ein bei einem Kursziel von 150 Euro. Auch UBS rät zum Kauf bei einem Kursziel von 150 (zuvor 290) Euro und gelangt zu der Auffassung, nach dem Kurssturz sei viel Negatives in der Aktie berücksichtigt. Die Bank hat ihre Erwartung an die Ertragskraft von Volkswagen von 2015 bis 2019 um rund 30 % reduziert.