TECHNISCHE ANALYSE

Distributionsprozesse gewinnen an Konturen

Von Jörg Scherer *) Börsen-Zeitung, 11.7.2018 Das vergangene Jahr war an den internationalen Aktienmärkten von einer extrem ruhigen, gleichmäßigen Aufwärtsentwicklung gekennzeichnet. So schwankungsarm sollte 2018 gemäß unseren Aussagen aus dem...

Distributionsprozesse gewinnen an Konturen

Von Jörg Scherer *)Das vergangene Jahr war an den internationalen Aktienmärkten von einer extrem ruhigen, gleichmäßigen Aufwärtsentwicklung gekennzeichnet. So schwankungsarm sollte 2018 gemäß unseren Aussagen aus dem Jahresausblick nicht noch einmal verlaufen. Hinter diese zugegebenermaßen nicht sehr mutige Prognose können Anleger einen Haken machen. Während der S & P 500 im Jahr 2017 nur an acht Handelstagen um mehr als 1 % nach oben oder unten von seinem Vortagesschlusskurs abwich, war dies im bisherigen Jahresverlauf bereits 36 Mal der Fall. Aufgrund der ungewöhnlich langen Haussephase seit März 2009 sollten die Bäume zukünftig nicht mehr in den Himmel wachsen. Dazu passen die bisher realisierten Wertentwicklungen. So konnte der S & P 500 leicht zulegen. Wohingegen Investoren mit einem Engagement im Dow Jones, Euro Stoxx 50 und Dax Kursverluste hinnehmen mussten. Aus technischer Sicht war es zu Jahresbeginn dennoch zu früh, um ein unmittelbares Ende der Hausse zu prognostizieren. Unser Kernargument war dabei ein grundsätzliches Verhaltensmuster. Schließlich gestaltet sich die obere Umkehr am Aktienmarkt selten “v-förmig”. Vielmehr benötigen Toppbildungen Zeit, so dass sich insgesamt ein längerer Distributionsprozess ergibt. Im Sinne dieser Anforderung sind die Aktienmärkte wieder einen Schritt weiter als im Januar, denn bei vielen Kursverläufen zeichnen sich mittlerweile Distributionsphasen immer deutlicher ab.Den laufenden Distributionsprozess können Anleger am Stoxx Europe 600 festmachen, der seit über einem Jahr seitwärts läuft. Doch nicht nur unter Risikogesichtspunkten, sondern insgesamt halten wir diesen Kursverlauf für einen entscheidenden, langfristigen Taktgeber. Zum gefühlt x-ten Mal wurde im Mai und Juni die Relevanz der Widerstandszone bei 401/408/415 Punkten untermauert. Diese Marken definieren die Schlüsselbarrieren, um die Seitwärtsphase der letzten 20 Jahre zu beenden. Aufgrund der beschriebenen Distributionsphase steigt allerdings die Gefahr einer Toppbildung. Deshalb sollten Anleger die Nackenzone der möglichen oberen Umkehr aus dem Aufwärtstrend seit Herbst 2011, der 38-Monats-Linie (akt. jeweils bei 368 Punkten), einem Fibonacci-Level (367 Punkte) sowie dem Tief vom August vergangenen Jahres (366 Punkte) unbedingt beachten. Ein Abgleiten unter diese Bastion würde eine Schulter-Kopf-Schulter-Formation mit einem Abschlagspotenzial bis rund 320 Punkte vervollständigen. Fast noch schwerer wiegt aber, dass dann das Risiko einer größeren Toppbildung steigt. So ist die beschriebene Umkehr übergeordnet möglicherweise – in Kombination mit dem Hoch vom April 2015 (415 Punkte) – Teil eines größeren Doppeltopps. Wenngleich per saldo immer noch ein “Make-or-break”-Szenario vorherrscht, nimmt die Wahrscheinlichkeit für einen Ausbruch nach unten zu. Deshalb sollten Anleger die Kumulationszone bei rund 365 Punkten als strategische Absicherung auf der Unterseite heranziehen. Zu einer zurückhaltenden Grundausrichtung passt auch der Faktor “Saisonalität”, denn traditionell stellen die Sommermonate für die Weltbörsen nicht die beste Marktphase dar. Dazu passt der US-Präsidentschaftszyklus, der im typischen Verlauf des Zwischenwahljahres von Juni bis September eine volatile Entwicklung unterstellt. Von Ende August bis Ende September droht im Durchschnitt sogar eine deutliche Schwächephase des Dow Jones. Während für die USA saisonale Untersuchungen regelmäßig vorliegen, fehlen diese für unseren heimischen Markt oftmals. Um diesen “Makel” zu beheben, haben wir die Wertentwicklung der zehn größten Dax-Werte im Zeitraum vom 1. Juni bis 30. September in den Jahren 2000 bis 2017 auf den Prüfstand gestellt. Gemessen an der durchschnittlichen Kursentwicklung seit Beginn des Jahrtausends haben die Dax-Schwergewichte eine herausfordernde Zeit vor sich. Nur drei von zehn Titeln (Linde, Adidas, SAP) schafften in diesem Zeitraum ein Kursplus. Im Durchschnitt mussten die Dax-Schwergewichte über die Sommermonate Kursabschläge hinnehmen. Probleme für BullenAuch am heimischen Aktienmarkt steht für die Bullen derzeit einiges auf dem Spiel. Am eindrucksvollsten verdeutlichen lässt sich diese These anhand des Langfristcharts des Dax-Kursindex, wo eine drohende Schulter-Kopf-Schulter-Formation nicht von der Hand zu weisen ist. Die Nackenzone der oberen Umkehr wird durch die Kumulationszone bei rund 5 600 Punkten definiert. Hier fällt das 38,2-Prozent-Fibonacci-Retracement des Aufwärtsimpulses von Anfang 2016 (5 644 Punkte) mit den letzten beiden Tiefs (5 625/5 541 Punkte) sowie der 38-Monats-Linie (akt. bei 5 541 Punkten) zusammen. Ein Abgleiten unter diese Bastion würde die Toppbildung abschließen. Für besonders bemerkenswert halten wir in diesem Kontext, dass sich das mögliche obere Umkehrmuster im Bereich des alten Rekordstandes von 6 266 Punkten aus dem Jahr 2000 ausbildet. Das rechnerische Abschlagspotenzial aus einer abgeschlossenen S-K-S-Formation lässt sich auf gut 800 Punkten taxieren, so dass perspektivisch der im März 2009 etablierte Haussetrend (akt. bei 4 978 Punkten) unter Druck geraten dürfte. Aufgrund der fortschreitenden Distributionsprozesse sollten sich Anleger defensiver aufstellen und die strategischen Absicherungen unbedingt beachten.—-*) Jörg Scherer ist Leiter Technische Analyse bei HSBC Deutschland.