Droht nach dem Feuerwerk der Kater?
Droht nach dem Feuerwerk der Kater?
Aktienmärkte haben im ersten Halbjahr eine rasante Rally hingelegt – Experten sind sich uneins über die weitere Entwicklung
Von Tobias Möllers, Frankfurt
Im ersten Halbjahr 2023 kannten die wichtigsten Aktienmärkte fast nur eine Richtung – aufwärts. Mit einer derartigen Rally hatten nur wenige Analysten gerechnet. Doch zuletzt mehren sich die Anzeichen, dass die Party zu Ende geht. In welchen Märkten und Sektoren die Experten jetzt noch Chancen sehen.
Am Ende des Jahres 2022 notierte der deutsche Leitindex bei 14.571 Punkten, damit hatte er sich schon ein gutes Stück weit von seinem September-Tief bei 11.862 Zählern entfernt. Dass das erst der Beginn einer Rally war und der Dax bis zur Jahresmitte weitere 2.000 Punkte zulegen könnte, hatten damals nur wenige Marktteilnehmer erwartet, doch genauso kam es. Mitte Juni stieg der Dax auf sein jüngstes Allzeithoch bei 16.427 Punkten.
Und der deutsche Leitindex befindet sich mit seinem rasanten Anstieg in guter Gesellschaft. Zuletzt befand sich auch der japanische Nikkei 225 auf der Überholspur. Zu einem Allzeithoch reichte es dort zwar bisher nicht, aber der Index kletterte auf seinen höchsten Wert seit 33 Jahren. Und auch die amerikanischen Indizes zeigten sich in Rally-Laune: Während der marktbreite S&P 500 zumindest knapp 13% auf 4.425 Punkte zulegen konnte, markierte der technologielastige Nasdaq 100 - angetrieben von einigen wenigen Schwergewichten – sein bisheriges Jahreshoch bei 15.185 Zählern und damit satte 36% höher als noch zu Jahresbeginn.
Heidelberg Materials im Dax vorn
Die größten Gewinner im Dax im bisherigen Jahresverlauf lassen sich nicht einer bestimmten Branche zuordnen. Der Baustoffkonzern Heidelberg Materials verbuchte Aufschläge von fast 40%. Der Sportartikelhersteller Adidas konnte nach dem CEO-Wechsel von Kasper Rorsted zu Bjørn Gulden 2023 rund 35% zulegen. Auf den nächsten Plätzen folgen so unterschiedliche Unternehmen wie der Werkstoffhersteller Covestro, der Autokonzern BMW, der Waffenhersteller Rheinmetall und die Chip-Größe Infineon. Größter Gewinner im MDax war ein vielen Anlegern auf den ersten Blick unbekannter Wert: Redcare Pharmacy, die umformierte Shop Apotheke, konnte ihren Wert seit Jahresbeginn mehr als verdoppeln. Über 120% Plus gelangen an der SDax-Spitze sogar dem Biopharma-Konzern Morphosys.
Doch auch in einem haussierenden Markt gibt es Verlierer. Im bisherigen Jahresverlauf büßten Vonovia –stellvertretend für die gesamte Immobilienbranche – fast 20% ein. Noch schlechter schnitt der Online-Versandhändler Zalando ab, der seit Jahresbeginn über 20% verlor. Auch Siemens Energy und Sartorius notieren nach gekappten Prognosen bzw. enttäuschenden Ergebnissen deutlich unter ihrem Wert vom Jahresbeginn.
Nvidia schlägt alle
Deutlich einseitiger fällt ein Blick auf die Gewinner jenseits des Atlantiks aus: Nvidia konnten im ersten Halbjahr 2023 fast 200% zulegen. Auch Meta und Tesla glänzten mit Aufschlägen im dreistelligen Bereich. Palo Alto Networks und AMD verbuchten immerhin noch Steigerungen von über 70% und komplettieren die Top-5-Werte des Nasdaq 100. Technologie und hier besonders der KI-Hype nach der Vorstellung von ChatGPT befeuerten den Markt. Mit Blick auf den marktbreiteren S&P 500 fällt auf, dass neben den Tech-Größen nur eine zweite Branche in ähnlichem Ausmaß zulegen konnte: Mit Royal Caribbean Cruises und Carnival erlebten zwei Kreuzfahrtreedereien nach der Corona-Katastrophe seit Januar eine Art zweiten Frühling.
Diese Konzentration auf einige wenige Schwergewichte, ohne die die Wertsteigerungen der amerikanischen Indizes deutlich weniger beeindruckend ausgefallen wären, sorgen dann auch bei nicht wenigen Analysten für ein Stirnrunzeln. Durch dieses Klumpenrisiko könnten die Märkte auch sehr schnell in die andere Richtung drehen, wenn die Tech-Größen einmal nicht liefern.
Rahmenbedingungen schwierig
Dabei waren die Umstände und Rahmenbedingungen für die Aktienmärkte auch abgesehen davon Anfang 2023 alles andere als vielversprechend – und sind es bis heute nicht. Die Inflation hat sich im ersten Halbjahr 2023 zwar abgeschwächt, hält sich aber noch immer hartnäckig. Entsprechend sind die Leitzinserhöhungen von EZB und Fed auch noch nicht abgeschlossen. Zumindest für den Rest des Jahres wird der Markt mit höheren Zinsen leben müssen. Eine Absenkung ist dies- wie jenseits des Atlantiks frühestens im Jahr 2024 zu erwarten. Auch das Rezessionsgespenst geht weiter um. Während Deutschland sich schon im Abschwung befindet, droht dieser oder zumindest eine Stagnation weiterhin sowohl dem gesamten Euroraum als auch den USA. Und auch an einer anderen Front, der des russischen Angriffskrieges in der Ukraine, zeichnet sich weiter keine Entspannung oder gar ein Friedensschluss ab. Fast schon vergessen ist bei dieser Aufzählung die Bankenkrise, die neben dem Credit-Suisse-Aus auch das Ende einiger US-Regionalbanken bedeutete.
Doch natürlich gibt es auch einige Faktoren, die für weiter steigende Aktienmärkte sprechen: So weisen die Dax-Werte auch nach der jüngsten Hausse noch immer ein relativ günstiges KGV von 12,8 nach 11,5 zu Jahresbeginn auf – insgesamt scheinen europäische Aktien im internationalen Vergleich noch immer niedrig bewertet. Die Unternehmen konnten im ersten Halbjahr zu einem beachtlichen Teil mit Zahlen überraschen, die über den Erwartungen der Analysten lagen – auch wenn zuletzt Ausnahmen wie Sartorius oder Siemens Energy das Bild ein wenig trübten. Und auch die Leitzinsfrage lässt sich aus einer positiveren Warte betrachten. Zwar ist der Höhepunkt der Anhebungen noch nicht erreicht, er naht aber mit großen Schritten.
Chancen steigen mit der Zeit
Doch was raten Analysten mit Blick auf das zweite Halbjahr am Aktienmarkt? Geht die Party weiter, oder droht Anlegern nach der jüngsten Hausse ein Kater? Frank Engels von Union Investment geht von einem unsicheren zweiten Halbjahr mit starken Schwankungen aus. Für weitere nachhaltige Anstiege brauche es mehr Erwartungssicherheit bei den Schlüsselfaktoren Inflation, Geldpolitik, Konjunktur und Finanzmarktstabilität. Gleichwohl seien in all diesen Bereichen Verbesserungen zu erwarten: „Die Chancen steigen, je länger das Jahr andauert.“
Mit einem lebhaften zweiten Halbjahr rechnet auch Geir Lode von Federated Hermes Limited. Er erwartet eine von den US-Tech-Giganten und Kommunikationstiteln angeführte Welle des Gewinnwachstums, die „die Aktienkurse beflügeln wird“. Zwar fürchtet auch Lode weiter steigende Zinsen, die Growth-Papieren oft nicht gut bekommen, geht aber davon aus, dass das Gewinnwachstum die Auswirkungen höherer Kreditkosten in den Schatten stellen wird.
Robert Greil von Merck Finck sieht im zweiten Halbjahr hingegen ein günstiges Umfeld für defensive Aktien. Die Bereiche Gesundheit und Basiskonsum dürften sich überdurchschnittlich entwickeln. Chancen sieht er außerdem im Asien-Pazifik-Raum. Während Greil die Aktienmärkte in Europa fair bewertet sieht, hält er Märkte in Fernost wie Japan für attraktiv. Anders als andere Experten glaubt Greil auch weiterhin an eine anhaltende Wachstumserholung in China.
Dax hat noch Luft nach oben
Davon geht Patrick Franke von der Helaba nicht mehr aus. Die Daten aus China nach der Erholung von der Pandemiewelle hätten enttäuscht. Die Helaba reduziert ihre Wachstumsprognose von 6,2% auf 5,8%. Etwas anders lautet die Einschätzung für Deutschland: Zwar senkt die Helaba auch hier ihre Jahresprognose auf kalenderbereinigt −0,1%, für das kommende Jahr geht die Bank hingegen von einer besseren Lage aus und erhöht die Wirtschaftsprognose auf 1,5% (bisher 1,3%). Mit Blick auf die Aktienmärkte erwartet die Helaba zunächst weiter leicht steigende Notierungen. Deutsche und japanische Aktien hätten noch Luft nach oben, auch wenn diese nach der jüngsten Rally beim Nikkei 225 allmählich dünner werde. Gleiches gelte erst recht für den S&P 500. Ein allmähliches Ende der Zinserhöhungen und die Aussicht auf eine wirtschaftliche Belebung dürften dennoch auch in der zweiten Hälfte noch einmal für eine Aufwärtsbewegung sorgen. Den Dax taxiert Helaba-Mann Markus Reinwand zum Jahresende auf 17.000 Punkte.
Die unterschiedlichen Einschätzungen zeigen, dass bis zum Jahresende eine gezielte Titelauswahl für alle, die am Aktienmarkt am Ball bleiben wollen, noch wichtiger als sonst ist. Verschiebungen wie bei dem KI-Boom im ersten Halbjahr können Anlegern auch in einem schwierigen Umfeld weiter kurzfristig ordentliche Gewinne bescheren. Grundsätzlich sollte eine Aktienanlage aber langfristig sein.