Finanzmärkte

Dunkle Wolken über der Wall Street

Trotz unerwartet positiver Quartalsberichte stehen der Wall Street unruhige Zeiten bevor. Insbesondere eine irrlichternde US-Fiskalpolitik sorgt laut Analysten für Stabilitätsrisiken.

Dunkle Wolken über der Wall Street

Dunkle Wolken über der Wall Street

Federal Reserve und Treasury bescheren Amerikas Aktien- und Bondmärkten heftigen Gegenwind – Analysten sehen Fiskalpolitik auf Irrwegen

Von Alex Wehnert, New York

An der Wall Street ziehen trotz einer starken Berichtssaison dunkle Wolken auf. Steuerte der S&P 500 noch in der vergangenen Woche auf die längste Gewinnserie seit fast 20 Jahren zu, haben die Federal Reserve und das US-Finanzministerium der Anlegerstimmung seither wieder harte Dämpfer verpasst. So sorgte Notenbankchef Jerome Powell auf einer Konferenz des Internationalen Währungsfonds mit der Aussage für Verunsicherung, es sei ein Fehler, mit Sicherheit von einem Ende des laufenden Zinszyklus in den USA auszugehen. Die Fed werde "nicht zögern", bei Bedarf zu weiteren monetären Straffungen zu greifen.

Powell ernüchtert Anleger

Noch in der Vorwoche hatte Powell mit Äußerungen für Optimismus gesorgt, gemäß denen der Anstieg der Treasury-Renditen im Herbst die Fremdfinanzierungskosten möglicherweise so stark in die Höhe getrieben habe, dass der Kampf gegen die Inflation auch ohne weitere Zinsanhebungen zu gewinnen sei. Umso größer fiel die Ernüchterung nach den erneut vorsichtigeren Tönen aus.

Einige der bullishen Stimmen an der Wall Street spielen Powells Aussagen zwar als jüngste Wasserstandsmeldung in einem kommunikativen Zickzack-Kurs der Fed herunter, die schon in wenigen Handelstagen wieder überholt sein könne. Doch fällt es auch den Optimisten schwer, die Ergebnisse der jüngsten Auktion dreißigjähriger Staatsanleihen beiseite zu wischen. So waren die Primärhändler am vergangenen Donnerstag gezwungen, 24,7% der begebenen Treasuries im Gesamtvolumen von 24 Mrd. Dollar auf die eigenen Bücher zu nehmen. Wie Charlie McElligott, Makro-Stratege bei der japanischen Investmentbank Nomura in New York betont, fällt der Anteil der als Dealer eingespannten Banken damit nahezu doppelt so hoch aus wie im Durchschnitt der vergangenen sechs Monate.

Die stark gedämpfte Beteiligung an der Auktion sei auch auf einen Hackerangriff auf die US-Tochter der Industrial and Commercial Bank of China (ICBC) zurückzuführen gewesen. Schließlich hätten viele Dealer in der Folge nicht mit Marktteilnehmern handeln können, die ihre Treasury-Trades über das weltgrößte Geldhaus clearten. Doch seien durchaus fundamentalere Nachfragefaktoren im Spiel gewesen. So habe sich das Rendite-Risiko-Profil langlaufender US-Staatsanleihen nach der Kurserholung der Vorwochen einfach nicht mehr als attraktiv ausgenommen. Auch die niedrige Bid-to-Cover-Ratio – also das Verhältnis aus dem Dollar-Gebotsvolumen und den zugeteilten Bonds – von 2,24 deute auf ein schwaches Investoreninteresse hin.

Die laufende Verzinsung der 30-jährigen US-Staatsanleihe sprang darauf über die Marke von 4,8%. Damit einher ging auch ein scharfer Renditeanstieg beim zehnjährigen Titel. Die erneuten Volatilitätsanstiege treffen den Staatsanleihemarkt in einer Phase, in der das US-Finanzministerium nach turbulenten Monaten eigentlich für eine gewisse Erleichterung gesorgt hatte. So kündigte die Treasury Anfang November an, die Emissionen zehnjähriger Staatsanleihen bis Ende Januar um monatlich 2 Mrd. Dollar zu erhöhen, bei 30-jährigen Papieren ist eine Ausweitung um jeweils 1 Mrd. Dollar vorgesehen. Analysten hatten zuvor mit höheren Volumina gerechnet.

Hoher Nachholbedarf

Doch wenngleich die Treasury das Tempo ihrer Auktionen damit drosselt, fällt das Gesamtvolumen enorm hoch aus. Denn nach dem ersten Halbjahr, in dessen Verlauf sich das Finanzministerium infolge des Streits um die Schuldenobergrenze in Washington kaum Geld über neue Wertpapiere leihen konnte, bestand großer Nachholbedarf bei den Emissionen, um die steigenden Staatsausgaben zu decken. Laut dem Wirtschaftsverband Securities Industry and Financial Markets Association (SIFMA) ist das Volumen in allen Laufzeiten im Oktober auf über 2,5 Bill. Dollar geklettert. Vor einem Jahr lag es noch bei etwas mehr als 1,3 Bill. Dollar. Und während das Emissionstempo in den längeren Laufzeiten zurückgehen soll, stehen noch stärkere Ausweitungen bei 2- und 5-jährigen Titeln bevor.

Die Furcht davor, dass die hohen Volumina die Marktteilnehmer überfordern, ist nun eher gewachsen. Damit stehen zunehmend die Rolle des Treasury-Markts als sicherer Anlagehafen und die Stabilität des US-Finanzsystems in Zweifel. "Die amerikanische Finanzpolitik entwickelt sich aus unserer Sicht eindeutig in die falsche Richtung", kommentiert Jan Viebig, Chief Investment Officer von Oddo BHF, die Entwicklung des Haushaltsdefizits und die Schuldenstreitigkeiten in Washington. „Die Defizitquote könnte künftig noch steigen, wenn das Zinsniveau 'höher für länger' bleibt“, befürchtet er.

Die Ratingagentur Fitch kritisierte im August die "Erosion des staatlichen Ordnungsrahmens" in den USA und stufte die Kreditwürdigkeit der Vereinigten Staaten von "AAA" auf "AA+ herab. Moodys senkte ihren Ausblick am vergangenen Freitag von "stabil" auf "negativ". Oddo-BHF-CIO Viebig hält eine grundlegende fiskalische Reform in den USA für notwendig, zu der angesichts der kontraproduktiven Streitkultur und Polarisierung zwischen Demokraten und Republikanern aber wohl die Kraft fehle.

Auch grundsätzlich konstruktiv eingestellte Aktien-Portfoliomanager wie Brent Puff vom Vermögensverwalter American Century räumen ein, dass die Entwicklungen in Washington das Image des US-Finanzmarkts beschädigt hätten. Damit hätten die Volatilität bei Staatsanleihen und die anhaltend knappe Liquidität auch Auswirkungen auf Dividendentitel.

Nun betrachten viele Analysten die auf den ersten Blick so positiv ausgefallenen Zahlen der US-Unternehmen noch einmal genauer. Dabei stellen sie fest: Die Gewinne der Gesellschaften im S&P 500 sind im Mittel zwar um 7,1% höher ausgefallen als im Konsens erwartet, wobei sich insbesondere Branchen wie der Nicht-Basiskonsum und die Telekommunikation unerwartet stark zeigten. Doch die Margen stehen anhaltend unter Druck.

Margen im Abwärtstrend

J.P. Morgan geht davon aus, dass der Abwärtstrend bei den Gewinnspannen im kommenden Jahr an Fahrt gewinnen wird. Denn ein allgemeiner wirtschaftlicher Abschwung werde die Preismacht in vielen Branchen bröckeln lassen – die Konsens-Prognose für das Gewinnwachstum im S&P 500 von 11% im kommenden Jahr beinhalte aber vielmehr die Erwartung steigender Umsatzrenditen.

"Damit sehen wir ein Abwärtsrisiko", betonen die Analysten und verweisen darauf, dass die US-Indexbewertungen nur begrenzten Spielraum böten, um Korrekturen bei den Gewinnprognosen aufzufangen. Dies gilt für den Nasdaq 100 wohl noch stärker als für den S&P 500. Denn der Tech-Index hat, getrieben durch den Hype um künstliche Intelligenz, 2023 bisher um rund 43% zugelegt, das marktbreite Barometer dagegen um 15%. Engen sich die Margen 2024 wie befürchtet stärker ein, dürften laut J.P. Morgan größere Kursschwankungen anstehen. Die dräuende Wetterfront über der Wall Street droht damit noch dunkler zu werden, als viele Anleger derzeit glauben.

Trotz unerwartet positiver Resultate aus der Berichtssaison zum dritten Quartal stehen der Wall Street unruhige Zeiten bevor. Insbesondere eine irrlichternde US-Fiskalpolitik sorgt laut Analysten für Stabilitätsrisiken, die sich in den kommenden Monaten schwer an den Bond- und Aktienmärkten niederschlagen dürften.

xaw New York