„Ein neues Investment-Regime“
Christopher Kalbhenn.
Herr Lück, das Umfeld für die Kapitalmärkte wird immer unsicherer. Worauf müssen wir uns einstellen?
In den zurückliegenden Wochen ist sehr klar geworden, dass wir uns nicht in einer, sondern in mehreren Zeitenwenden befinden. In Deutschland hat sich die Illusion zerschlagen, dass immer verlässlich fossile Energien aus Russland kommen und wir uns nicht sonderlich um die Sicherheitsarchitektur kümmern müssen. Ferner hängt unser Geschäftsmodell sehr stark von der Globalisierung ab. Nun haben wir es nicht immer mit berechenbaren Partnern zu tun. Auch das muss überdacht werden. Wir haben es deshalb mit deutlich höheren Unsicherheiten als in den zurückliegenden Jahren und Jahrzehnten zu tun. Damit bekommen wir ein neues Investment-Regime.
Was kennzeichnet das neue Investment-Regime?
Die zurückliegenden Jahrzehnte waren durch die „Great Moderation“ geprägt. Darunter versteht man die große Glättung der Zyklen durch eine moderierende Wirtschaftspolitik, vor allem der Zentralbanken. Die Marktteilnehmer wussten, dass, wenn es zu einer Krise kommt, die Zentralbanken eingreifen, woraufhin die Märkte konsolidieren und dann auf neue Höchststände steigen. Jetzt haben wir eine neue Realität mit hoher Volatilität und kürzeren Zyklen bei den Makrogrößen Wachstum und Inflation und damit auch bei den Marktpreisen.
Was bedeutet all dies für das zweite Halbjahr, insbesondere für die Aktienmärkte?
In der Vergangenheit wurden wir davon geprägt, dass die Märkte nach Krisen wie dem Dotcom-Crash und dem Lehman-Kollaps wieder zu einer Art Normalität zurückfinden. Das könnte zwar auch dieses Mal geschehen. Aber es ist deutlich ungewisser aufgrund der vielfältigen Unwägbarkeiten und Krisen, die gerade stattfinden, der vielen parallelen Zeitenwenden, die wir gerade erleben. Das verursacht hohe Volatilität. Das heißt, und das ist eine der Hauptbotschaften unseres Halbjahresausblicks: Das zweite Halbjahr ist noch nicht der richtige Zeitpunkt zum Einstieg in Risiko-Assets wie Aktien. Die Märkte werden auf Dauer volatil bleiben.
Gilt das auch für Hochzinsanleihen?
Auch bei Hochzinsanleihen sind wir noch zurückhaltend. Die Phase der Zinsängste wird jetzt durch eine Phase abgelöst, in der eine Gewinnrezession befürchtet wird. Die Gewinnerwartungen sind nach Süden gerichtet. Zum Teil ist schon eingepreist, dass die Gewinnschätzungen nachgeben werden, aber eben nur zum Teil. Es wird in der anstehenden Berichtssaison darauf ankommen, wie deutlich die Gewinne sinken und wie skeptisch die Unternehmen nach vorne schauen. Es ist wahrscheinlich, dass die sinkenden Wachstumsschätzungen die Unternehmen vorsichtig werden lassen. Erst wenn sich die Unternehmen ebenfalls skeptisch äußern, passen auch die Analysten ihre Prognosen an. Dann erst sinken die Konsensschätzungen. Sie sind ein Spätindikator.
Sind die Bewertungen europäischer Aktien denn nicht bereits recht günstig, auch wenn die Konsensgewinnschätzungen noch sinken werden?
In Europa haben wir die Situation, dass eine Rezession noch nicht vollständig im Aktienmarkt eingepreist ist. Vieles hängt dabei davon ab, wie es mit dem Krieg weitergeht. Die Konjunktur könnte sich sehr stark abschwächen. Die Investitionen der Unternehmen und die Ausgaben der Verbraucher werden durch die sehr hohen Energiepreise geschmälert, und es gibt Prognosen, dass sich die Gaspreise im Winter verdoppeln oder sogar verdreifachen könnten. Die Rezessionsrisiken sind der Grund dafür, dass wir in der kurzen Frist beziehungsweise aus taktischer Sicht Aktien der Industrieländer nun sogar untergewichten.
Und wie stehen Sie zu Anleihen?
In der kurzfristigen Sicht besteht die Aussicht, dass sich auf der Anleiheseite die Lage etwas aufhellt. Denn die Zentralbanken dürften irgendwann sagen: „Wir werden die Zinsen doch nicht so stark erhöhen, wie wir das angekündigt haben.“ Der wirtschaftliche Abschwung wird inflationsdämpfend wirken, das heißt, die Konjunkturentwicklung könnte den Zentralbanken den Job abnehmen. Sie könnten sagen, dass es in einem Abschwung nicht sinnvoll ist, die Zinsen zu stark zu erhöhen. Damit könnten Anleihen auf kurze Sicht sogar besser abschneiden als Aktien. Zu den Segmenten, die vor diesem Hintergrund besonders interessant sind, zählen britische Staatsanleihen, weil die Bank of England die Erste der großen Notenbanken war, die gestrafft hat. Auch bei Investment-Grade-Anleihen sehen wir Chancen. Mittlerweile ist in dem Segment eine Ausfallwahrscheinlichkeit eingepreist, die in der Realität vermutlich so nicht gegeben ist. Hinzu kommt die Erwartung, dass die Zinsen nicht mehr weiter so steigen werden.
Was halten Sie von Rohstoffen?
Diese Asset-Klasse ist das extremste Beispiel dafür, wie man zwischen der kurz- und der langfristigen Sichtweise unterscheiden muss. Der Markt spielt derzeit sehr stark eine wirtschaftliche Abschwächung. Das haben die jüngsten deutlichen Verluste der Öl- und Industriemetallpreise gezeigt. Mittelfristig sollte sich die Rohstoffnachfrage jedoch deutlich erhöhen. Denn China sollte sich deutlich erholen. Die Führung will dem geplanten Wachstumsziel von 5,5 % möglichst nahekommen. Das Land ist sehr rohstoffhungrig. Die Rohstoffpreise werden wieder steigen, wenn China an den Weltmarkt zurückkehrt und beispielsweise wieder in seine Infrastruktur investiert. Das bindet enorme Mengen an Rohstoffen. Hinzu kommt der Klimawandel, der zunehmend zu Extremwetterereignissen führt, sowie zusätzlich die Notwendigkeit, sich von fossiler Energie aus Russland unabhängig zu machen. Letzteres wird die grüne Transformation deutlich beschleunigen. Die Folge sind enorme Investitionen in grüne Infrastruktur, was enorme Mengen an Industriemetallen und anderen Rohstoffen erfordert. Die Nachfrage wird dramatisch steigen.
Wie sieht Ihre langfristige Haltung zu Aktien aus?
Langfristig beziehungsweise aus strategischer Sicht mit einem Zeithorizont von fünf Jahren und mehr ist es eine gute Idee für Investoren, an Unternehmen beteiligt zu sein. Wenn wir eine volatilere Welt haben, müssen wir uns auf Aktien fokussieren, die weniger schwanken als der Gesamtmarkt. Außerdem setzen wir, auch in der kurzen Sicht, auf defensive Aktien beziehungsweise auf Güter, die immer gebraucht werden, also etwa auf die Sektoren Konsum und Gesundheit. Wichtig ist auch Qualität, also etwa Qualität der Bilanzen und des Managements.
Das Interview führte