GASTBEITRAG ZUR SERIE: ANLAGETHEMA IM BRENNPUNKT (140)

ESG wertvolles Risikomanagement-Instrument für Anlagen in Schwellenländern

Börsen-Zeitung, 17.10.2020 ESG-Analysen haben das Potenzial, in Schwellenländern einen weit größeren Mehrwert zu schaffen als in entwickelten Märkten, da sie dazu beitragen, Unternehmen mit erheblichen und nicht beherrschbaren ESG-Risiken zu...

ESG wertvolles Risikomanagement-Instrument für Anlagen in Schwellenländern

ESG-Analysen haben das Potenzial, in Schwellenländern einen weit größeren Mehrwert zu schaffen als in entwickelten Märkten, da sie dazu beitragen, Unternehmen mit erheblichen und nicht beherrschbaren ESG-Risiken zu identifizieren, die mittel- und langfristig die Performance beeinträchtigen können. Eine bloße Maximierung von ESG-Scores genügt allerdings nicht, um die erwarteten Resultate zu erzielen.Verschiedene Studien haben bereits belegt, dass die ESG-Performance in Schwellenländern stärker gestreut ist als in Industrieländern. Das erklärt den Nutzen, den ESG- Analysen durch das Identifizieren und Ausschließen von ESG-Nachzüglern und die daraus resultierende Steigerung der Portfolioperformance haben. Das liegt daran, dass Unternehmen in Schwellenländern tendenziell anfälliger für systematische und titelspezifische ESG-Risiken sind.Die Probleme der Qualität von ESG-Daten in Schwellenländern haben weniger zuverlässige ESG-Bewertungen zur Folge. Das bedeutet, dass die veröffentlichten ESG-Kennzahlen in Schwellenländern Risiken oder künftige Entwicklungen weniger effektiv funktionieren als in Industrieländern. Dies lässt sich mit der schwächeren ESG-Berichterstattungskultur in den Schwellenländern erklären. Dieses Informationsdefizit wird dadurch verstärkt, dass die ESG-Performance von Unternehmen von der Presse und der Zivilgesellschaft weniger stark hinterfragt wird.Doch mit der zunehmenden Verbreitung von ESG-Berichten und neuen Methoden der Informationsgewinnung zeichnet sich eine Veränderung ab. Dementsprechend verbessert sich die Datenqualität, wobei weniger Firmen übersehen werden. Bis die Datenqualität den Stand der Industrieländer erreichen wird, ist es allerdings noch ein weiter Weg. Auch wenn davon ausgegangen werden kann, dass es langfristig zu einer Angleichung der Datenqualität kommen wird, müssen aktive ESG-Investmentmanager bis auf Weiteres jedoch mehr eigenen Aufwand betreiben, um sich ein genaueres Bild des Risikomanagements zu machen. Unsere quantitative Analyse zeigt, dass sich eine ESG-Auswahl der Best-in-Class-Unternehmen oder der besten 50 % – in den Industrieländern ein gängiger Ansatz – in den Schwellenländern nachteilig auf die Performance auswirken würde. Dort haben wir festgestellt, dass sich am meisten Alpha generieren lässt, wenn unter den performancestärksten Titeln die schwächsten Firmen mit Blick auf ESG ausgeschlossen werden (siehe Grafik).Darüber hinaus können ESG-Risiken in Schwellenländern akuter sein und weitreichendere Folgen als in Industrieländern haben. Arbeitnehmerschutz, Gesundheits- und Sicherheitsvorschriften, Umweltprüfungen und Produktqualitätsstandards sind häufig schwächer entwickelt oder werden weniger streng durchgesetzt. Vor diesem Hintergrund müssen Unternehmen viel mehr tun, als bloß die Gesetze zu befolgen, um sich gegen wesentliche ökologische und soziale Risiken abzusichern. Auch Bestechung und Korruption sind weit verbreitet, wie sich an Indizes wie dem Corruption Perception Index von Transparency International ablesen lässt. Unternehmen benötigen also solidere Praktiken, um korruptionsfrei zu bleiben.Dabei wirken sich Standortfaktoren stark aus: Unternehmen aus Ländern, welche aufgrund von Faktoren wie Bildung, Staatsführung und Verwaltung, Produktivität des Humankapitals und Umgang mit natürlichen Ressourcen eine schwache ESG-Leistung aufweisen, können es am Markt schwerer haben. Auch Faktoren wie fragile Ökosysteme, Naturkatastrophen, Wasserknappheit sowie überdurchschnittlich viele und schwerwiegendere Arbeitsunfälle sind in Schwellenländern wichtige Gesichtspunkte, die es zu beachten gilt. Dies kann sich auf manche Unternehmen gravierender auswirken als auf andere – immer abhängig davon, wo sie sich befinden.In dieser Hinsicht ist Governance in den Schwellenländern ein besonders wichtiger Aspekt, der häufig als wesentliches Unterscheidungsmerkmal zwischen Unternehmen aufstrebender und entwickelter Wirtschaften angeführt wird. Häufig können wir beobachten, dass die Art, wie ein Unternehmen geführt wird (G), die Leitlinien der Unternehmenskultur und damit das Verhalten eines Unternehmens im Hinblick auf ökologische (E) und soziale (S) Aspekte bestimmt. Corporate Governance ist somit bei der Betrachtung von Schwellenländern aus den folgenden Gründen häufig der Bereich, der die größte Aufmerksamkeit verdient. Aufsichtsgremien im FokusDie Unabhängigkeit der Aufsichtsgremien von Unternehmen ist in der Regel deutlich niedriger als in Industrieländern. Der Qualität und den Fähigkeiten der Verwaltungsratsmitglieder muss daher besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden: Sind sie bloß Abnicker für die Entscheidungen der Geschäftsleitung oder bilden sie ein effektives Gegengewicht, das sich für die Interessen von Minderheitsaktionären einsetzt? Daher muss umfassend analysiert werden, wie der Verwaltungsrat die langfristigen Interessen von Minderheitsaktionären in der Vergangenheit gewahrt hat. Um Informationslücken zu schließen, müssen Anlageverwalter mehr eigenes Research durchführen und den direkten Kontakt mit Unternehmen pflegen.Staats- und Familienbesitz ist in Schwellenländern verbreiteter als in Industrieländern. Diese Eigentümerstrukturen sind häufig mit einer schwächeren Performance verbunden, da ein höheres Risiko besteht, dass politischen, sozialen oder privaten Interessen Vorrang vor denen der Aktionäre eingeräumt wird. Geschäftsvorfälle mit nahestehenden Unternehmen und Personen sind verbreitet und müssen untersucht werden, um festzustellen, ob sie zu Marktbedingungen im besten Interesse des Unternehmens erfolgen und vollständig offengelegt werden.Zudem ist es nicht hilfreich, alle Schwellenländer als homogene Einheit zu betrachten. Vielmehr müssen Anleger ein Verständnis für die Normen und Corporate-Governance-Vorschriften verschiedener Länder entwickeln. Ein rein westliches Verständnis dessen, welche Governance-Strukturen erforderlich sind, kann den Anleger blind für attraktive Unternehmen machen, die den heimischen, aber nicht den westlichen Governance-Normen folgen.Da es in Schwellenländern weitaus mehr Schwachstellen und Unstimmigkeiten im Hinblick auf ESG-Bewertungen gibt als in Industrieländern, ist es besonders wichtig, dass die Anleger ein eigenes ESG-Research betreiben und sich mit den Informationen aus vielen verschiedenen Quellen einen belastbaren Gesamteindruck verschaffen.Es gibt einige wesentliche Elemente, durch die ESG Mehrwert für Anlagen schaffen kann. Der Ansatz für die Beurteilung der wesentlichen ESG-Risiken, mit denen ein Unternehmen konfrontiert ist, sollte sich auf die wichtigsten Punkte konzentrieren und die Beurteilung auf Grundlage einer umfangreichen Sektorenkenntnis erfolgen. ESG sollte die Analyse der Fundamentaldaten von Unternehmen durch gründliche Untersuchung realer Probleme ergänzen, die erhebliche Auswirkungen auf die Leistung eines Unternehmens haben können. Den größten Mehrwert bietet die Fähigkeit, sich umfassend mit kritischen Themen zu befassen und sie zu untersuchen: vom Verdacht auf Zwangsarbeit in den Lieferketten über Unregelmäßigkeiten in der Rechnungslegung und Eingriffen bei staatlich geführten Unternehmen bis hin zu Fällen von Compliance-Versagen. Hierzu bedarf es häufig einer direkten Kontaktaufnahme mit dem Unternehmen sowie der Befragung externer Quellen. Ein solcher Ansatz ermöglicht die vollständige Integration von ESG-Aspekten in den Investment Case, statt sie isoliert zu betrachten oder externen Bewertungen unkritisch Glauben zu schenken. Sinnvolle WarnschwelleBeim Risikomanagement besteht die Herausforderung darin, eine sinnvolle Warnschwelle festzulegen, bei deren Überschreiten eine bestehende Portfolioposition aufgelöst oder vom Aufbau einer Position abgesehen wird. Da sich das Berichts- und Regulierungsumfeld sowie die Instrumente zur Auswertung der Daten laufend verändern, kommt es für aktive ESG-Manager darauf an, sich ebenfalls der stetigen Verbesserung und Weiterentwicklung verpflichtet zu sehen und bei Anlagen in Schwellenländerunternehmen anhand von ESG-Kriterien stets strengste Research-Disziplin walten zu lassen. Lara Kesterton, Head of mtx ESG Research bei Vontobel Asset Management