KREDITWÜRDIG

Europas Staatsanleihen: Lautloser Big Bang?

Von Ulrich Kater *) Börsen-Zeitung, 15.10.2020 Im Juli beschlossen die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union einen kreditfinanzierten Wiederaufbaufonds für ihre Mitgliedsländer, um den wirtschaftlichen Schäden durch die Corona-Pandemie...

Europas Staatsanleihen: Lautloser Big Bang?

Von Ulrich Kater *)Im Juli beschlossen die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union einen kreditfinanzierten Wiederaufbaufonds für ihre Mitgliedsländer, um den wirtschaftlichen Schäden durch die Corona-Pandemie entgegenzuwirken. Das bei der Europäischen Union angesiedelte Programm soll explizit Umverteilungen zwischen den kräftigen Ländern zu den stärker betroffenen Regionen ermöglichen. Ein solcher Gedanke der Umverteilung ist nicht neu, er wird auch bei den Kohäsionsfonds – wenngleich höchst unvollkommen – verfolgt. Neu ist dagegen, dass der Recovery Fund vollständig kreditfinanziert wird. Gemeinschaftsanleihen hat es in der Europäischen Union zwar schon gegeben, aber zumindest vom Volumen her betritt sie Neuland. 4 Prozent des BIPMit 750 Mrd. Euro Mittelaufnahmen – das sind etwa 4 % des Bruttoinlandsprodukts (BIP) der Mitgliedsländer – wird die EU quasi über Nacht zu einem der größten öffentlichen Emittenten in Europa und zu einem der Größen in der Welt. Der politische Durchbruch einer von verschiedenen Seiten immer wieder geforderten gemeinsamen Verschuldung ist wie so häufig einer Krise geschuldet, in diesem Fall dem coronabedingten Wirtschaftseinbruch von historischer Dimension. Dabei handelt es sich zumindest vordergründig nicht um Eurobonds, zumindest nicht in dem Sinn, in dem dieser Begriff in der europäischen Diskussion besetzt ist, nämlich als dauerhafte Gemeinschaftsfinanzierung laufender Haushalte, womöglich sogar direkte Übernahme von Altschulden.Um die politische Einwertung wird jedoch noch gerungen. Mittlerweile weist etwa die deutsche Bundesregierung explizit auf die begrenzte Laufzeit und den spezifischen Zweck des Projekts hin. Andere Europäer drücken eher die Hoffnung aus, dass dies der Beginn einer dauerhaften Entwicklung sein könnte. Für Investoren in Investment-Grade-Staatsanleihen stellt sich die Frage, ob sich mit dieser Entwicklung die Tektonik der europäischen Staatsanleihenmärkte ändert. Der coronabedingte Wirtschaftseinbruch bringt für die Staaten rekordhohe Defizite mit sich. Deutschland wird im laufenden Jahr voraussichtlich einen Fehlbetrag im öffentlichen Haushalt von 7,5 % Prozent aufweisen, Spanien von 9,5 %, Frankreich von 10 %, und Italien von 11 %. Der staatliche Schuldenstand steigt dementsprechend in diesem Jahr dramatisch an: in Deutschland auf 75 % in Relation zum BIP. Die entsprechenden Quoten belaufen sich für Frankreich auf 120 %, für Spanien auf 130 % und für Italien auf 158 %. Selbst wenn sich im kommenden Jahr die Wirtschaftsleistung wieder deutlich erholen sollte, bleiben bei voraussichtlich weiter anhaltenden Defiziten diese Niveaus im Grunde bestehen. Gelöst wie lange nichtEine absehbare Ausweitung des Schuldenstands in der jetzigen Größenordnung hätte für eine Reihe von Ländern die Risikoprämie bereits jetzt deutlich nach oben treiben können. Das ist nicht passiert. Zehnjährige spanische Staatsanleihen rentieren nur 0,70 Prozentpunkte oberhalb der deutschen Benchmark, die Spreads für die entsprechenden italienischen und spanischen Anleihen liegen zurzeit bei 1,25 Prozentpunkten, in der vergangenen Woche erlebten BTPs mit 0,68 % das niedrigste Renditeniveau ihrer Geschichte. Sollte das Land die kommenden Ratingrunden im Herbst ohne weitere Blessuren überstehen, wofür ebenfalls die jüngsten europäischen Fiskalbeschlüsse ursächlich sein könnten, dann sind sogar weitere Renditerückgänge drin.Ist dies der Verdienst des neuen europäischen Finanzierungsprogramms? Jein. Das Programm selber ist zu klein, um die fiskalischen Schmerzen der Mitgliedsländer entscheidend zu lindern. Zwar wird es ab 2022 durchaus substanzielle Umverteilungseffekte des Wiederaufbaufonds zwischen den Teilnehmerländern geben. Auch wird die auf EU-Ebene aufgenommene Verschuldung nicht in den nationalen Schuldenquoten ausgewiesen. Aber die Größenordnung des Programms ermöglicht es den besonders verschuldeten Ländern wahrscheinlich gerade mal, in den kommenden Jahren den notwendigen Primärüberschuss ausweisen zu können, um einen glaubwürdigen Konsolidierungspfad dokumentieren zu können, nicht jedoch eine substanzielle Senkung der Schuldenquote.Wichtiger als der Recovery Fund für die entspannteste europäische Zinslandschaft seit einem Jahrzehnt dürfte sein, dass dieser als symbolisch für die Verschmelzung von Geld- und Fiskalpolitik angesehen wird. Auf vielen Diskussions- und Entscheidungsebenen – und nicht nur in Europa – gewinnt immer mehr die Ansicht Raum, dass die Strukturprobleme in den demografisch gebeutelten Industriestaaten nur durch eine Kombination von expansiver Geld- und Finanzpolitik gelöst werden können. Die europäische Initiative, die ja hauptsächlich Investitionen finanzieren soll, kann als Signal in diese Richtung verstanden werden. Die dabei freigesetzten Kräfte könnten gewaltig sein. In ihren Marktauswirkungen ist dabei die Perspektiven einer Geldpolitik, die als Garant der Staatshaushalte fungiert, weitaus bedeutsamer als das europäische Wiederaufbauprogramm. Es war die EZB, die sowohl während der Eurokrise als auch zu Beginn der Coronakrise einen steilen Anstieg der Risikoprämien durch die Ankündigung von Anleihekäufen effektiv gestoppt hat. Stabilität nicht garantiertDer Europäische Aufbaufonds ist also eine Säule innerhalb eines neuen Politikgebäudes, auf dem das Vertrauen in die Staatsanleihemärkte innerhalb des Euroraums derzeit ruht. Es ist sicherlich eine wichtige politische Weichenstellung, dass die Euro-Mitgliedsländer sich zu einer bislang so sehr umstrittenen Initiative durchringen konnten, wenngleich nur mit ausdrücklichem Bezug zu einer außergewöhnlichen Krise. Diese Weichenstellung wird voraussichtlich dazu beitragen, dass die europäischen Staatsanleihenmärkte auch in der Zeit nach Corona gefestigt bleiben dürften – vielleicht nicht immer so entspannt wie gegenwärtig, aber doch stabil. Ob die Gleise auf diesem Teil der Strecke jedoch dauerhaft tragen, ist damit nicht garantiert.Zum einen kann die Rückkehr der Inflation das Tandem Geld- und Fiskalpolitik schnell umkippen lassen. Zum anderen: Obwohl es mit jedem Schritt der fiskalischen Integration schwieriger wird, den Weg zurückzulaufen, ist der Recovery Fund für sich genommen kein Freibrief für eine gesamteuropäische Fiskalverantwortung. Damit steht und fällt die Beurteilung der Bonität der Mitgliedstaaten in den Augen der Kapitalmärkte weiterhin mit dem politischen Zusammenhalt innerhalb der Union. Ebenso prekär wäre es, wenn politische oder konstitutionelle Grenzen die Ankaufsaktivität der EZB einschränken sollten. Das alles zeigt einmal mehr, dass sich das Universum der europäischen Staatsanleihen nicht mit einem Big Bang, sondern eher evolutionär entwickelt. *) Ulrich Kater ist Chefvolkswirt der DekaBank.