Exportweltmeister vor enormen Herausforderungen
Prognosemodelle in der Unternehmensbewertung folgen normalerweise einem einfachen Schema: Für einen überschaubaren Zeitraum von wenigen Jahren werden die Finanzkennzahlen mit hohem Detailgrad geplant, auf mittlere Sicht werden die wesentlichen Trends in der Regel extrapoliert. In der sich daran anschließenden sogenannten „ewigen Wachstumsrate“ spiegelt sich dann die Hoffnung, dass die Welt so bleibt, wie sie ist. Das kann gut gehen – muss aber nicht. Das Jahr 2022 hat mit dem russischen Angriffskrieg in der Ukraine und den Auswirkungen auf die europäischen Energiemärkte einen traurigen Beweis dafür geliefert, dass sich Prognoserisiken nicht erst in ferner Zukunft materialisieren können. Doch die großen geopolitischen Veränderungen gilt es insbesondere auch für Deutschland nicht aus dem Auge zu verlieren.
Kurzfristig dürfte die wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland zumindest in den ersten beiden Quartalen 2023 so weitergehen, wie sie im Jahr 2022 aufgehört hat: Hohe Inflation, die mit voller Wucht in der Bevölkerung angekommen ist, und eine damit einhergehende, zunehmende Konsumzurückhaltung bei diskretionären Ausgaben. Steigende Rohstoff-, Lohn- und Finanzierungskosten der Unternehmen, bei sich gleichzeitig abschwächenden Exportmärkten. Und – besonders mit Blick auf die Unternehmensgewinne relevant – ein Auslaufen der Post-Corona-Sonderkonjunktur in Branchen wie der Automobil- oder Baustoffindustrie, wo das knappe Angebot zu Spitzenpreisen abgesetzt werden konnte.
Von den Rentenmärkten kommen eindeutige Rezessionssignale. Mit fast schon historischen Renditebewegungen wurde dort versucht, die toxische Mischung von Inflation und drohender Rezession in Einklang zu bringen. Gleichzeitig hat die Zinsstrukturkurve ein zuverlässiges Rezessionssignal produziert: In den USA ist die Fälligkeitskurve im Bereich zwei bis zehn Jahre seit Anfang Juli invers; die durch Zinsanhebungssorgen und Rezessionsängste gleichermaßen getriebene Inversion erreichte in der Spitze rund 80 Basispunkte. In Deutschland rentieren zweijährige Papiere erst seit Anfang November über der Rendite ihrer zehnjährigen Pendants.
Ende der Zinserhöhungen
Während die kurzfristigen Konjunkturaussichten in Bezug auf das BIP-Wachstum moderat sind, dürfte der Inflationsauftrieb im Jahresverlauf – sowohl in den USA als auch in der Folge in der Eurozone – nachlassen. Insbesondere für die zweite Jahreshälfte rechnen wir mit niedrigeren Inflationsraten, was zunächst der Konsumneigung und mittelbar, über ein dann absehbares Ende des Zinserhöhungszyklus, auch den heimischen Aktienmärkten helfen sollte. Dort dürfte der Großteil der notwendigen Bewertungskorrektur bereits hinter uns liegen. Auch wenn die Konsensgewinnschätzungen für europäische Aktien und für den Dax 40 unseres Erachtens noch immer etwas zu optimistisch erscheinen, sollte das Zusammenspiel von attraktiven Bewertungen, abflachender Inflation und dem Näherrücken des Zinshochs zu einer insgesamt positiven Aktienperformance führen, insbesondere mit Blick auf die zweite Jahreshälfte.
Die aktuelle Lage und der verhaltene Optimismus für das Jahr 2023 sollten aber ein zentrales Thema nicht verdecken: Deutschland wird in den kommenden Jahren international eine neue Rolle finden müssen. Die Glanzzeiten des ehemaligen Exportweltmeisters liegen lange zurück. Zum letzten Mal konnte sich Deutschland 2008 mit diesem Titel schmücken, bevor sich China ab 2009 an die Spitze schob und seitdem jedes Jahr den Vorsprung weiter ausgebaut hat. Ab 2010 sind dann auch die Vereinigten Staaten an Deutschland vorbeigezogen. Positiv vermerken mag man hierzu noch, dass der Pro-Kopf-Export weiterhin deutlich vor den beiden Supermächten liegt. Doch das kann nur eingeschränkt trösten. Viel wichtiger als das Gewesene ist allerdings der Blick in die Zukunft. War es bislang für den Außenhandel vor allem wichtig, die Wettbewerbsfähigkeit der Produkte sicherzustellen, gewinnt zunehmend auch die politische Dimension an Gewicht.
Rund ein Drittel der Gesamtausfuhren Deutschlands entfallen auf die Autobranche und den Maschinenbau. Insbesondere für Erstere werden die Herausforderungen zunehmend größer. Mit dem Ende der Verbrennungsmotoren endet eine Ära. Mit wenigen Ausnahmen ist es schwer vorstellbar, dass sich dieser Vorsprung in das Zeitalter der Elektromobilität retten lassen kann. Und insbesondere im direkten Wettstreit mit China droht Ungemach. China hat sich sehr früh den nötigen Zugang zu Ressourcen und die nötige Expertise für die Elektrifizierung von Fahrzeugen gesichert. Dem kann die deutsche Autoindustrie derzeit vor allem noch die – aus der Verbrenner-Zeit herübergerettete – Strahlkraft der Marken entgegenhalten. Während das eine allerdings dauerhafte Kostenvorteile bringt, kostet die sorgsame Pflege des anderen langfristig viel Geld. Ein gutes Drittel aller Fahrzeuge der drei großen deutschen Hersteller werden zudem in der „Höhle des Löwen“ abgesetzt. Jede industrie- oder geopolitische Verschlechterung des Verhältnisses zu China hätte somit massive Auswirkungen.
Tempo gefragt
Es stellt sich die Frage, ob Deutschland für ein eventuell anbrechendes Zeitalter der De-Globalisierung und Repatriierung von Fertigungsketten gut genug aufgestellt ist. Mit Blick auf die Energieversorgung lässt sich diese Frage eindeutig verneinen. Und mit Blick auf viele kommerzialisierbare Technologien gilt es international nicht den Anschluss zu verlieren. An der Dominanz der US-amerikanischen Internetkonzerne gibt es nichts zu rütteln, und auf anderen Gebieten, wie der Umstellung auf Wasserstoff, ist Tempo gefragt, um international eine Führungsrolle anmelden zu können. Deutschland hat über Jahrzehnte massiv von der Globalisierung profitiert. Mit Blick auf die Herausforderungen, die vor uns liegen, ist das aber kein Garant für „ewiges Wachstum“.
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